Arndt Striegler bloggt
Ärzte fordern: Brexit darf nicht auf Kosten der Gesundheit gehen
Erstmals haben 15 Gesundheitsorganisationen ihre Stimme in Sachen Brexit erhoben. Sie fordern, das EU-Ausstiegsgesetz zu ergänzen. Bestehende Gesundheitsstandards dürften nicht gesenkt werden. Die Lobbyarbeit scheint zu wirken, schreibt unser Blogger Arndt Striegler.
Veröffentlicht:LONDON. Dass britische Haus- und Fachärzte, Krankenschwestern und -pfleger und Vertreter weiterer Gesundheitsberufe zusehens besorgt in Richtung Brexit-Day blicken, habe ich in diesem Blog mehrfach berichtet.
Allerdings waren meine bisherigen Anmerkungen dazu eher anekdotischer Natur und basierten zumeist auf persönlichen Gesprächen, die ich sowohl als Patient als auch als Londoner Korrespondent mit Ärzten, Pflegern und anderem Gesundheitspersonal geführt habe.
Umso interessanter ist, dass vor wenigen Tagen insgesamt 15 ärztliche und andere Berufsverbände einen beispiellosen gesundheitspolitischen Lobby-Vorstoß im britischen Parlament wagten, der zum Ziel hat sicher zu stellen, dass "Brexit nicht zu Lasten der Gesundheitsversorgung und der Volksgesundheit geht".
Eine bemerkenswerte neue Entwicklung in Sachen Ausstieg der Briten aus der EU! Und eine Entwicklung, die mich freut und wieder etwas optimistischer auf meine Zukunft auf der Insel blicken lässt.
Auch das Royal College ist dabei
Die Ärzteorganisationen, darunter einige der größten und politisch einflussreichsten Berufsverbände im Königreich wie das Royal College of General Practitioners (RCGP), welches die beruflichen Interessen britischer Hausärzte vertritt, verlangen, das Brexit-Gesetz zu ergänzen.
Darin sind die Formalien des EU-Ausstiegs geregelt. Der sogenannte Brexit Bill wird in den kommenden Wochen und Monaten hitzig in beiden Häusern des Parlaments (Unter- und Oberhaus) debattiert werden. Bislang fehlt in den von der Regierung May vorgelegten Textentwürfen freilich fast jede Erwähnung des Themas Gesundheit.
Ob und wie der Brexit die künftige Gesundheitsversorgung im Königreich verändern wird – die Londoner Regierung hüllt sich bisher in Schweigen. Genau das stört die britischen Ärzte und genau das wollen sie jetzt ändern. "Bevor es zu spät ist", wie ein Sprecher des größten britischen Ärzteverbandes (British Medical Association, BMA) mir sagte.
"Der Brexit ist für Großbritannien die wohl wichtigste politische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte", sagt John Middleton, Präsident der Faculty of Public Health (FPH), die ebenfalls zu den 15 Berufsorganisation gehört, die sich für eine Ergänzung des Brexit Bill stark machen.
"Wir müssen unbedingt gewährleisten, dass der Ausstieg aus der EU nicht auf Kosten der Gesundheitsversorgung und zum Nachteil der Patienten gerät." Und: "Die Verunsicherung und die Sorgen vor dem Brexit steigen nicht nur bei Ärzten und anderen NHS-Bediensteten.
Gleichzeitig ist die Brexit-Gesetzgebung für die Regierung eine einmalige Chance, zu gewährleisten, dass der Ausstieg nicht dazu führen wird, dass alle die Fortschritte, die seit unserem EU-Beitritt im Gesundheitsbereich erzielt wurden, wieder zunichtegemacht werden!"
Brexit-Effekt schon spürbar
Klare Worte aus berufenem Munde! Schon jetzt spürt man in Großbritannien einen "Brexit-Effekt" in den Kliniken und Arztpraxen.
Die Zahl der aus der EU nach Großbritannien kommenden qualifizierten Pflegekräfte nimmt ab; gleichzeitig überlegen viele deutsche, französische, spanische und andere Ärzte aus der EU, wegen des Brexit das Land zu verlassen. Zu groß die Unsicherheiten, zu ungewiss die Zukunft.
"Ich weiß nicht, ob ich in einem Land weiterhin leben und arbeiten möchte, das sich international mehr und mehr abkapselt und dass Ausländer wie mich immer feindseliger behandelt", sagte eine mir persönlich bekannte Londoner Allgemeinmedizinerin, die seit mehr als zehn Jahren anstatt im heimischen Spanien im staatlichen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) praktiziert.
Der aktuelle Vorstoß der Medizinerorganisationen ist zugleich der mit Abstand größte gemeinsame gesundheitspolitische Lobbyvorstoß seit 2006.
Damals setzten sich die Berufsverbände erfolgreich dafür ein, das Rauchen in allen öffentlichen Gebäuden im Königreich gesetzlich zu verbieten und Verstöße mit saftigen Geldstrafen zu ahnden.
Bei der aktuellen Initiative geht es den britischen Ärzten und Vertretern anderer Gesundheitsberufe darum, zu verhindern, dass die Londoner Regierungen nach dem EU-Aus zum Beispiel europäische Bestimmungen, die dem Schutz der Gesundheit dienen, außer Kraft zu setzen. Beispiele sind Warnhinweise auf Zigarettenschachteln oder auch die Kennzeichnungspflicht bei Lebensmitteln.
Kein Verwässern von Standards!
Ebenfalls wichtig für die Initiatoren: öffentliche Gesundheit, Meldepflichten bestimmter Krankheiten und Prävention. All das solle weiterhin europäisch einheitlich geregelt werden, britische Alleingänge werden dagegen eher skeptisch gesehen.
Denn dabei bestehe die Gefahr, dass Großbritannien gesundheitliche Schutzbestimmungen entweder ganz aufhebt oder verwässert, um so privaten Investoren einen Gefallen zu tun.
Erste Indizien deuten darauf hin, dass sich die Lobbyarbeit der Ärzteschaft auszahlen könnte. Bereits im Vorfeld wichtiger parlamentarischer Abstimmungen haben Unterhausabgeordnete aller großen Parteien ihre Zustimmung zu den Gesetzesergänzungen signalisiert. Und um britischen Oberhaus scheint es gar eine klare Mehrheit für die Initiative zu geben.