Interview

Auf der Suche nach dem großen Wurf bei Integrierter Versorgung

Der Gesetzgeber plant, die Integrierte Versorgung zu stärken. Weitergehende Forderungen in Richtung Regionalisierung stellt ein Autorenteam um Dr. h. c. Helmut Hildebrandt in einem Papier. Mit ihm sprachen wir über die Intention und Aussichten für die Umsetzung.

Hauke GerlofVon Hauke Gerlof Veröffentlicht:
Dr. h. c. Helmut Hildebrandt

Dr. h. c. Helmut Hildebrandt

© Bente Stachowske/OptiMedis

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Hilde-brandt, Sie haben mit 18 Ko-Autoren ein Papier herausgegeben, in dem Sie für regionale Gesundheitskonferenzen mehr Gestaltungsmacht fordern. Warum gerade diese Akteure?

Dr. Helmut Hildebrandt: Die Grundidee ist eigentlich sehr einfach. Die Art und Weise, wie wir heute Gesundheitsversorgung betreiben, ist ein riesiger Spagat. Auf der einen Seite eine super-avancierte Wissenschaft, zum Beispiel das, was an Präzisionsmedizin im Krebsbereich gemacht wird. Und auf der anderen Seite eine rudimentäre Digitalisierung, Berufsgruppen-Querelen um Pfründe in der Versorgung, dann die mangelhaften Übergaben. Und eine Medizin, die eigentlich finanziell dazu aufgefordert ist, Patienten möglichst kurz zu behandeln, statt mit ihnen eine gute Planung für ihre Gesundheitsentwicklung zu machen.

Das ist nicht neu...

Nein, all das hat uns schon lange zu der Forderung gebracht: Wir brauchen integrierte Versorgung. Und jetzt ist aber das Problem: Integrierte Versorgung kann man nicht verordnen. Das kann man nicht von der nationalen Ebene aus machen. Das kann man nur auf der Ebene machen, wo Akteure unterwegs sind, die auch ein bisschen Beziehung zueinander haben, sich ein Stückchen kennen. Und deshalb sind wir davon überzeugt, wir brauchen einen neuen Anstoß für das, was auf der regionalen Ebene möglich ist. Und da bieten sich natürlich die Gesundheitskonferenzen an, auch wenn die noch lange nicht so aktiv sind, wie wir uns das wünschen würden. Aber sie bieten eine Grundlage. Mit den Landkreisen als demokratisch legitimierte Organisation hätte man dann auch einen Vertreter der Bürgerschaft in der Region, die einen Wunsch ausdrücken könnten: Wir wollen hier in unserer Region eine bessere Gesundheitsversorgung aufbauen.

Diese Gesundheitskonferenzen sind ja eigentlich kaum spürbar in der Öffentlichkeit. Was machen die eigentlich bis jetzt?

Die Konferenzen gibt es nicht in allen Bundesländern. Also sie sind ursprünglich mal in Nordrhein-Westfalen initiiert worden. Inzwischen sind sie in Süddeutschland relativ stabil. Baden-Württemberg hat das ÖGD-Gesetz zur Verpflichtung gemacht für die Landkreise und die kreisfreien Städte. In Bayern gibt es die Gesundheitsregionen Plus, die auch so etwas darstellen. Auch in Niedersachsen gibt es das. Häufig ist das eher eine Art Beiratsgremium, wo Vertreter aus den Sektoren zwar zusammenkommen und miteinander zum Beispiel darüber reden, was bezogen auf Kindergesundheit oder Gesundheitsversorgung der Älteren verbessert werden könnte. Aber die Konferenzen haben weder Budget, noch haben sie Daten, Grundlagen, auf deren Basis sie vernünftig arbeiten können.

Und so eine Gesundheitskonferenz ohne Budget und Daten wäre dann in der Lage, nach Ihrem Modell mit allen Krankenkassen gleichzeitig einen Vertrag abzuschließen?

Nicht die Gesundheitskonferenz selber. Die hat ja keinen rechtlichen Organisationsrahmen. Aber die Gesundheitskonferenz soll ein Budget sowie regionale Gesundheitsdaten zur Versorgungsplanung erhalten und kann über die Landkreise die Krankenkassen dazu auffordern, mit Gesellschaften, die sich auf der regionalen Ebene gebildet haben, in solche Vertragsverhältnisse einzusteigen. Damit kann sie einen gewissen Legitimationsdruck auf die Krankenkassen ausüben. Der müsste natürlich gleichzeitig auch von der Bundesebene auf die Krankenkassen kommen. Sodass die Krankenkassen in eine Verpflichtung kommen, innerhalb einer bestimmten Zeit, sagen wir mal 20, 25 Prozent ihrer Versicherten, in solchen regionalen Verträgen zu versorgen. Dann hätte man ein insgesamt konsistentes Modell.

20 bis 25 Prozent der Bevölkerung würden reichen?

Also das würde ich als Aufschlag nehmen. Ich will natürlich insgesamt eine Integration der Versorgung. Ich will eine Digitalisierung der Versorgung. Ich will, dass diese Überbürokratie aufhört. Es geht insgesamt um eine Optimierung der Gesundheitsentwicklung, um Gesprächsmedizin mit dem Patienten auf Augenhöhe.

Im Kinzigtal haben Sie ein solches regionales Projekt mit einem Ärztenetz organisiert. Das Ziel solcher Projekte ist ja eigentlich, eine von der Qualität her bessere Versorgung zu erreichen, die aber nicht mehr kostet als die Regelversorgung heute. Vielleicht sogar ein Schnäpschen weniger. Haben Sie das erreicht? Und was waren da die entscheidenden Faktoren?

Die entscheidenden Faktoren sind vielfältig. Das ist eine komplexe Intervention. Es gibt nicht nur die eine Seite, die man verändern muss, und das war es dann. Wir haben im Kinzigtal über die letzten 14 Jahre tatsächlich beweisen können, dass wir auf der Qualitätsseite absolut das gleiche Niveau halten wie in der sonstigen Versorgung. Demnächst kommt eine neue Evaluation heraus, die wir mit dem Innovationsfonds zusammen vorgenommen haben. Und gleichzeitig sehen wir, dass wir die Versorgungskosten für die beiden beteiligten Krankenkassen – das sind die AOK Baden-Württemberg und die landwirtschaftliche Krankenkasse SVLFG – in der Größenordnung sechs bis sieben Prozent niedrigere Versorgungskosten produziert haben, als eine analoge Population in Deutschland produzieren würde.

... in der Regelversorgung?

Genau, in der Regelversorgung. Das sind 150 Euro pro Kopf. Das sind dann etwas über fünf Millionen Euro jährlich für die beiden Krankenkassen. Die sie allerdings dann mit uns teilen müssen. „Mit uns“ heißt dann: mit einer lokalen Gesellschaft. Die heißt Gesundes Kinzigtal GmbH und hat als Gesellschafter ein Ärztenetz der Region sowie OptiMedis.

Und das wird dann auch teilweise unter den Ärzten dann wieder verteilt?

Das höre ich immer wieder. Das stimmt natürlich auch. Wenn die GmbH-Gesellschafterausschüttungen macht, dann wird es auch unter den Gesellschaftern verteilt und damit auch unter den Ärzten im Ärztenetz. Aber erst mal geht es in den laufenden Betrieb. Da haben wir zum Beispiel ein medizinisches Trainingszentrum etabliert, wo wir Patienten mit schon chronischen Erkrankungen mit Sportmaßnahmen rehabilitieren können. Wir haben dort Mitarbeiter, die rausgehen und mit den Patienten eine Art von Coaching machen für ihre Situation. Es gibt Versorgungsprogramme, für die die Ärzte und Mitarbeiter in den Praxen geschult sind, zum Beispiel für die Raucherentwöhnung, bei Osteoporose und Rückenerkrankungen oder für Prädiabetiker, damit diese vor einem manifesten Diabetes geschützt werden. Ganz viele unterschiedliche Maßnahmen. Depressionsmanagement und so weiter. Und das muss ja auch bezahlt werden. Das finanzieren wir dann aus diesem Anteil heraus. Aber letztendlich bleibt ein Nutzen für die Krankenkasse und damit für die Gesamtgesellschaft.

Gerade im Kinzigtal haben wir ja im Grunde genommen drei Systeme, die miteinander konkurrieren. die Regelversorgung über die KV, den großen Hausarztvertrag mit angeschlossenen Facharztverträgen und die populationsbezogene IV „Gesundes Kinzigtal“. Was findet die überall beteiligte AOK denn am besten?

Ich nehme an, dass die AOK wahrscheinlich den HzV-Vertrag im Moment noch besser findet. Weil sie damit für ganz Baden-Württemberg Effekte erreichen kann. Während eine Multiplikation von Kinzigtal halt aufwendiger ist. Denn das heißt, in jeder Region jeweils die Partner zusammenzubringen, die eine solche veränderte Versorgung machen wollen.

Wäre denn Kinzigtal auf andere Regionen übertragbar? Sie sprechen ja selber von einem Wettbewerb der Regionen. Werden dann die Regionen abgehängt, in denen weniger Geld zu verteilen ist oder in denen vielleicht auch weniger kluge Köpfe in den Gesundheitskonferenzen sitzen?

Zunächst würde ich sagen: Wir haben so viele gute Leute im Gesundheitswesen in Deutschland, die seit Längerem die Nase voll haben davon, wie sie arbeiten müssen. Also deshalb, glaube ich, es gibt in allen Regionen in Deutschland genügend Potenzial. Das Zweite ist: In jeder Region gibt es etwas andere Probleme. Also in der einen Region mag es tatsächlich Versorgungsprobleme geben. Auf der anderen Seite gibt es Stadtteilinitiativen wie in Hamburg-Billstedt/Horn. Da gibt es das Problem der Mehrsprachigkeit oder Nicht-Mehrsprachigkeit und damit Verständnisschwierigkeiten in der Praxis. Also es gibt in jeder Region unterschiedliche Anforderungen. Deshalb braucht man auch einen regionalen Zugang dazu. In der Großstadt ist es anders als in der Kleinstadt. Im Ländlichen vielleicht noch mal anders. Wir müssen regional angepasste Lösungen entwickeln. Und das kann man das nicht von oben national verordnen. Aber man kann von oben den Rahmen dafür setzen, dass sich auf der regionalen Seite Interessengemeinschaften bilden, die etwas verändern.

Gerade in der Pandemie jetzt ist ja sehr vieles auch zentral geregelt worden, teilweise mit Erfolg, teilweise ohne. Sehen Sie das Gesundheitssystem resilienter, wenn es regional organisiert ist, auch in solchen Krisensituationen?

Vor allen Dingen dann, wenn es auf der regionalen Seite eine Infrastruktur gibt, die bereit und fähig ist, Verantwortung zu übernehmen. Das ist ja das Problem gewesen. Ich hoffe, dass der Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst insgesamt auch ein Stückchen mehr Chancen dafür gibt, dass regional Know-how entsteht, um lokale Gesundheitsversorgung besser zu machen.

Also der ÖGD als ein wichtiger Akteur auf regionaler Ebene in so einer Gesundheitskonferenz und darüber hinaus?

Genau. Dass der zumindest mit den Daten vernünftig was ausarbeiten kann, dass er Vergleiche liefern kann. Dass er auf Probleme hinweisen kann. Das ist die Hoffnung, die wir damit verbinden.

Wie stellen Sie sich denn einen Übergang in ein regional organisiertes Gesundheitswesen vor? Da sind ja plötzlich ganz andere Akteure gefragt. Schlägt dann die Stunde der Managementgesellschaften wie OptiMedis?

Das kann jetzt OptiMedis sein, das kann aber auch natürlich jede andere Management-Gesellschaft sein. Aber auch kommunale Krankenhäuser können hier einspringen, die sagen: Wir gehen jetzt mit den Kollegen vor Ort zusammen in eine solche Managementgesellschaft und etablieren das. Oder es können auch die Sozial- und Wohlfahrtsorganisationen sein, die Johanniter, die Arbeiterwohlfahrt, wer auch immer. Und das Deutsche Rote Kreuz. Also viele Partner können sich engagieren und die Koalition der Willigen ausrufen. Und dann schauen wir mal, was daraus entsteht. Das Wichtige ist, der Bürger muss frei sein, wo er sich und von wem er sich behandeln lässt. Es dürfen sich keine Zwangsinstitutionen bilden.

So ein Übergang kostet ja auch Geld. Auch wenn es am Ende günstiger – oder auch besser gleichzeitig – werden soll, woher soll dieses Geld eigentlich kommen?

Wir haben vorgeschlagen, dass dafür ein Teil des Gesundheitsfonds regionalisiert wird, der dann die Investitionsfinanzierung dafür bereitstellt. Da könnten jetzt natürlich Sorgen entstehen, nach dem Motto: Der Gesundheitsfonds ist sowieso unterfinanziert. Das stimmt. Also insofern wird man den wahrscheinlich noch mit privatem Geld noch aufforsten, um damit diese Möglichkeit zu schaffen. Und dass dann diejenigen, die solche Verträge machen, ein Stück erhöhte Zuweisungen in den Anfangsjahren bekommen, die sie dann anschließend wieder zurückzahlen müssen, sodass sich über einen Zeitraum von 20 Jahren insgesamt ein gesellschaftlich positives Ergebnis ergibt.

Es ist ja immer ein ständiges Hin und Her, Zentrale oder Peripherie, wer hat das Sagen? Was wird in Ihrem Modell eigentlich aus der Regelversorgung? Betreuen KBV und KV dann nur noch Rudis Resterampe?

Gut, dass Sie das fragen. Die KV behält ihre jetzige Rolle. Auch die Kollegen im Kinzigtal bekommen ihre Vergütung von der KV. Daran verändert sich erst mal gar nichts. Auch die anderen Gremien werden weiterhin gebraucht, bis hin zum Gemeinsamen Bundesausschuss. Aber auf der lokalen Ebene hat man so viel Varianz in der Versorgungsrealität bis hin dann auch zu der Möglichkeit, tatsächlich positiv präventiv zu arbeiten. Das kann man von der nationalen und der Landesebene aus nicht machen.

Wie es weitergeht, wird nicht zuletzt von der Bundestagswahl 2021 abhängen. Glauben Sie, dass Sie mit Ihrem Entwurf für ein regionalisiertes Gesundheitswesen eine Chance haben?

Wir erleben eine relativ große Neugier bei den Parteien im Bundestag, und zwar quer über alle Parteien hinweg. Ich glaube, die Pandemiebewältigung hat ein bisschen Mut gemacht, in größeren Schritten zu denken. Und nicht nur das Klein-Klein der letzten zehn Jahre Gesundheitspolitik, wo ja sehr viel Mikromanagement gemacht worden ist. Ich glaube schon: Alle haben inzwischen gemerkt, da muss man einen größeren Wurf wagen.

Dr. h. c. Helmut Hildebrandt

  • Aktuelle Position: Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG, Schwerpunkt Aufbau und Management regionaler populationsbezogener IV-Systeme.
  • Ausbildung: Apotheker und Gesundheitswissenschaftler
  • Werdegang/sonstige Aktivitäten: Mitarbeit an Präventionsprojekten der WHO; Vorstand der International Foundation for Integrated Care; Beratung von Krankenkassen, Verbänden, Unternehmen und Einrichtungen der Gesundheitswirtschaft in Organisation, Strategie und Systementwicklung; 2005 bis 2018 Gründungsgeschäftsführer der Gesundes Kinzigtal GmbH; Co-Vorsitzender der Gesundheitspolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung; Vorstand des Bundesverbandes Managed Care.
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