„Recht auf selbstbestimmtes Sterben“

BVerfG-Urteil zur Sterbehilfe ist ein Aufruf zum Handeln für Ärzte

Das Bundesverfassungsgericht normiert ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Gesetzgeber und KVen sind zum Handeln aufgerufen. Die Begründung weist aber weit über das Thema Sterbehilfe hinaus.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, Monika Hermanns, Sibylle Kessal-Wulf, Vorsitzender Andreas Voßkuhle, Peter M. Huber, Johannes Masing und Ulrich Maidowski (v.l.), verkündet das Urteil zum Sterbehilfe-Verbot.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, Monika Hermanns, Sibylle Kessal-Wulf, Vorsitzender Andreas Voßkuhle, Peter M. Huber, Johannes Masing und Ulrich Maidowski (v.l.), verkündet das Urteil zum Sterbehilfe-Verbot.

© Uli Deck / dpa / picture allianc

Nach dem etwas sperrigen „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ nun ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Von einem Paukenschlag war nach der Verkündung die Rede, von einem Urteil, das einem schier den Atem raubt. Und als Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, die Entscheidung erläutert hatte, gab es dankbar erleichterten, in dem hohen Haus aber seltenen Applaus.

Einen wichtigen Grund nannte Voßkuhle gleich zu Beginn seiner Urteilsverkündung: „Die Suizidhilfe ist ein hoch emotionales und seit der Antike kontrovers behandeltes Thema (…). Es rührt an die Grundfesten unserer ethischen, moralischen und religiösen Überzeugungen.“

Über diese Überzeugungen freilich hatte das Bundesverfassungsgericht nicht zu befinden. Zu entscheiden hatte es schlicht, ob das gesetzliche und strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung mit den durch das Grundgesetz garantierten Freiheitsrechten vereinbar ist.

Nein! Die Antwort schlägt derart klar und präzise auf, dass hier wohl auch ausdrücklich hörbar sein soll: Der Paukenschlag kommt von den Berliner Philharmonikern der deutschen Justiz.

Die Hoheit über sich selbst

Dabei ist der Gedankengang gar nicht kompliziert: Das im Grundgesetz verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht meint einen autonomen Menschen, einen Menschen, der soweit irgend möglich die Hoheit über sich selbst haben soll. Dies gilt auch für das Sterben. Es schließt, so Voßkuhle, „die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“.

Für den Staat bedeutet dies: Er soll die Menschen vor Einflüssen schützen, die die Selbstbestimmung gefährden. Er soll Menschen schützen, die zur Bildung eines freien Willens nicht in der Lage sind. Er darf die Anderen aber nicht daran hindern, ihren freien Willen umzusetzen – unabhängig von Alter und Krankheiten. Staat und Gesellschaft müssen die Entscheidung akzeptieren.

Damit ist das gesetzliche Sterbehilfe-Verbot nicht vereinbar. Denn im Ergebnis nimmt es den Menschen die Möglichkeit, einen solchen selbst gewählten letzten Weg zu gehen, weil dies ohne Hilfe kaum möglich ist.

Menschenbild nach Grundgesetz

Präsident Voßkuhles Amtszeit läuft im Mai aus. Die Nachfolge ist noch offen, aber absehbar wird er noch dieses Jahr das Bundesverfassungsgericht verlassen. Mit seinem Senat breitet er nun auf 115 Seiten nicht nur die Entscheidung zur Sterbehilfe aus, sondern – gestützt auch auf frühere Urteile – die Beschreibung eines Menschenbildes, wie es nach Überzeugung der Karlsruher Richter dem Grundgesetz zugrunde liegt.

Dies sei eine „Verfassungsordnung, die den Menschen als eine zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähige Person begreift“, heißt es in dem Urteil. Dies bedeute, „dass der Mensch über sich nach eigenen Maßstäben verfügen kann und nicht in Lebensformen gedrängt wird, die in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen Selbstbild und Selbstverständnis stehen“.

Solche Aussagen haben Strahlkraft weit über das Thema Sterbehilfe hinaus – auch in die Bereiche Gesundheit und Pflege. Zwangsläufig führt dieses Menschenbild zu dem Recht, auch eine vermeintlich notwendige und lebenserhaltende medizinische Behandlung abzulehnen. Bei der Abwägung zwischen Autonomie und Sicherheit im Pflegeheim legen die Karlsruher Richter ein dickes Gewicht auf die Waagschale der Autonomie.

Wichtig ist, dass es gerade im Verfassungsrecht fast immer um eine Abwägung geht. Der Staat darf dabei aber nicht eine Seite derart betonen, hier den Lebensschutz, dass von einem Grundrecht, hier die Selbstbestimmung auch über den eigenen Tod, faktisch nichts übrig bleibt.

Für die Ärzte fordert das Bundesverfassungsgericht „eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts“. Bislang verbieten die Berufsordnungen in zehn der 17 Landesärztekammern die Sterbehilfe, zwei weitere enthalten eine entsprechende Soll-Vorschrift. Diese Regelungen sind nach dem Karlsruher Urteil verfassungswidrig und müssen geändert werden.

Auch das Recht der Ärzte, für die Selbsttötung geeignete Medikamente zu verordnen, ergibt sich zwangsläufig. Sollten die Fachgerichte das Betäubungsmittelgesetz nicht entsprechend auslegen können, muss hier der Gesetzgeber tätig werden.

Ärzte sollten Freiräume besetzen

Niemandem ist gedient, wenn sich Ärzteschaft und Politik dabei treiben lassen. Zügig muss der Gesetzgeber Regelungen schaffen, Möglichkeiten hat das Bundesverfassungsgericht selbst genannt: Eine Beratungs- und gegebenenfalls auch eine Wartepflicht für Sterbewillige und ein Erlaubnisvorbehalt für Verbände, die in diesem Bereich tätig werden wollen. Und die Ärzteschaft sollte die nun geschaffenen Freiräume rasch besetzen, ehe es andere tun, die keinen Eid auf das Leben geschworen haben.

„All dies“, so der letzte aber sicherlich nicht unwichtigste Satz auf den 115 Karlsruher Seiten, „lasst unberührt, dass es eine Verpflichtung zur Suizidhilfe nicht geben darf“.

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