Vielversprechend

Bedarfsplanung nach sozialen Aspekten

Der Berliner Sozialstrukturatlas liefert nicht nur Daten über die Versorgungslage, er zeigt auch, wofür sie genutzt werden können: die Bedarfsplanung. Eine Vorlage auch für andere Länder.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:
Berlin Neukölln: In wohlhabenderen Bezirken sind die Gesundheitschancen besser.

Berlin Neukölln: In wohlhabenderen Bezirken sind die Gesundheitschancen besser.

© Kleist-Heinrich/dpa

Armut und Krankheit wohnen Tür an Tür. Diese bekannte Nachbarschaft hat zuletzt wieder der Sozialstrukturatlas für Berlin vor Augen geführt. Mehr als eindeutig zeigt er, dass Gesundheitschancen mit Einkommen und Bildungsstand steigen.

Anders gesagt: Wo viele Menschen mit geringen Einkommen, schlechter Bildung und prekärer Berufssituation leben, ist die Lebenserwartung geringer, die Wahrscheinlichkeit vor dem 65. Lebensjahr zu sterben höher und das Risiko, chronisch zu erkranken ebenfalls erhöht.

Dieser Zusammenhang ist nicht nur für Berlin nachgewiesen. Das Robert Koch-Institut hat, zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, ähnliche Daten auch für das Bundesgebiet erhoben.

Ein erschreckendes Ergebnis: Männer aus unteren Einkommensschichten sterben rund elf Jahre früher als Männer aus der oberen Einkommensschicht. Auch interessant: Bei Frauen ist dieser Unterschied nicht so extrem ausgeprägt.

Das zeigt, dass die Große Koalition gut daran tut, wenn sie beim Präventionsgesetz den kleinen Unterschied berücksichtigt - und zwar möglichst nicht nur, indem sie die männliche und weibliche Form von Substantiven ins Gesetz schreibt.

Die Zahlen liegen auf dem Tisch, und das nicht erst seit gestern. Doch was geschieht mit ihnen? Gesundheitspolitik in ihrem Verständnis als Sozialpolitik kommt nicht umhin, daraus Konsequenzen zu ziehen. In Berlin sind die ersten Schritte dazu getan.

Der neue Sozialstrukturatlas liefert erstmals nicht nur Daten, sondern versteht sich nach dem Motto "Daten für Taten" als Handwerkszeug für die Sozial- und Gesundheitspolitik der Hauptstadt.

Als "Handlungsorientierter Sozialstrukturatlas" beschreibt er auf knapp 90 von 260 Seiten, wofür die Daten verwendet werden. Ihre gesundheitspolitische Relevanz erscheint beträchtlich.

Neue Wege bei der Vergabe von Fördermitteln

Unter anderem fließen die Erkenntnisse über die Verteilung von Arm und Reich, Krank und Gesund seit einem halben Jahr in die Bedarfsplanung der niedergelassenen Ärzte ein. Dazu wurde der Sozialstrukturindex in die Bedarfsplanung eingearbeitet und die Versorgungsgrade für Haus- und Kinderärzte in den Berliner Bezirken entsprechend neu berechnet.

Wenn Ärzte ihren Praxissitz innerhalb der Hauptstadt verlegen wollen, dann soll der Zulassungsausschuss das nur noch genehmigen, wenn sie in einen Bezirk ziehen, der nach dieser Neuberechnung schlechter versorgt ist, als der Bezirk, in dem die Praxis derzeit sitzt. Sinnvoll erscheint diese Regelung allemal.

Unter Umständen lässt sich mit ihr auch der wissenschaftlich belegten Tendenz gegensteuern, dass Ärzte mit Vorliebe dort ihre Praxis eröffnen, wo viele reiche Privatversicherte wohnen. Welche Wirkung die neue Bedarfsplanung entfaltet, lässt sich derzeit jedoch noch nicht sagen. Eine erste Zwischenerhebung ist für den Sommer geplant.

Dennoch scheint dieser Schritt Berlins andere auf einen ähnlichen Weg zu bringen. So berichtete Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks beim Kongress Armut und Gesundheit, dass die Hansestadt in einem Gutachten die regionalen Unterschiede bei der Verteilung der Krankheitslast der gesetzlich Versicherten erhoben hat. Dieses Gutachten soll Prüfer-Storcks zufolge nun Grundlage für eine gezielte Versorgungsplanung werden.

Über die ambulante Bedarfsplanung hinaus liefert der Berliner Sozialstrukturatlas weitere "Daten für Taten" in der Gesundheits- und Sozialpolitik der Hauptstadt. Dazu zählt unter anderem die Psychiatrieplanung.

Auf Basis des Sozialstrukturindex erhalten Bezirke mit einer eher problematischen Sozialstruktur mehr Mittel für psychiatrische Beratungsstellen, Alkohol- und Medikamentenberatung und Zuverdienstprojekte.

Auch in die Krankenhausplanung fließen die Erkenntnisse ein. Der für Berlin errechnete Bedarf an psychiatrischen Klinikbetten wird zu 70 Prozent nach Bevölkerungszahl und zu 30 Prozent nach dem Sozialindex auf die Bezirke verteilt.

Daten auch wichtig für die Prävention

Wirklich wichtig erscheint, dass der Sozialstrukturindex auch zur Steuerung von Prävention und Gesundheitsförderung herangezogen werden soll. Doch das ist keine profane Aufgabe. Denn für Prävention gibt es keine Bedarfsplanung. Beeinflussen lassen sich die Angebote bestenfalls durch die Vernetzung der Beteiligten.

Berlin, Nordrhein-Westfalen und weitere Länder haben dazu Landesgesundheitskonferenzen eingerichtet. Ihnen kommt zur regionalen Steuerung von Präventionsangeboten besondere Bedeutung zu.

Ein Präventionsgesetz birgt die Chance, diese Vernetzungs- und Koordinationsaufgaben rechtlich zu verankern. Dafür müssen sich die Gesundheits- und Sozialpolitiker der Länder dann aber auch in die Pflicht nehmen lassen. Denn Prävention umfasst nicht nur das Verhalten, sondern auch die Verhältnisse.

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