Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan um Exklave

Beobachter befürchten in Berg-Karabach einen neuen Genozid

Im Schatten des Ukraine-Kriegs schwelt ein anderer Konflikt weiter: der zwischen Armenien und Aserbaidschan um das Gebiet Berg-Karabach. Dort herrscht Hunger, und es gibt keine Arzneien mehr. Von Genozid ist schon die Rede.

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Nicht nur Brot fehlt in Berg-Karabach, auch Arzneimittel sind in Apotheken nicht mehr erhältlich.

Nicht nur Brot fehlt in Berg-Karabach, auch Arzneimittel sind in Apotheken nicht mehr erhältlich.

© Marut Vanyan / dpa / picture alliance

Eriwan. Im Gebiet Berg-Karabach im Kaukasus tief im Süden der früheren Sowjetunion spitzt sich die Lage bedrohlich zu. Die Armenier und Armenierinnen in dem international nicht anerkannten Staatsgebilde fürchten, ausgehungert zu werden. Auch die medizinische Versorgung ist gefährdet.

Es geht nach Schätzungen um 100.000 bis 120.000 Menschen. Seit Dezember 2022 blockiert Aserbaidschan, zu dem das Gebiet völkerrechtlich gehört, die Lebensader der Karabach-Armenier ins nahe Mutterland Armenien.

Medizintransporte sind gestoppt

Hielten anfangs noch angebliche aserbaidschanische Öko-Aktivisten den Warenverkehr auf, steht seit April ein regulärer Kontrollposten im sogenannten Latschin-Korridor. Seit Mitte Juni kommt humanitäre Hilfe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) nicht mehr durch.

Zuletzt konnten auch medizinische Notfalltransporte nicht mehr passieren. Aserbaidschan will nach Angaben von Präsident Ilham Aliyev den angeblichen Schmuggel von Waffen nach Berg-Karabach unterbinden.

Hunger als Waffe

Und wie immer, wenn es um den uralten Konflikt zwischen den christlichen Armeniern und den übermächtigen muslimischen Nachbarn geht, wird die Erinnerung an die systematische Vertreibung und Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich ab 1915 wach.

Der frühere Chefankläger des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, nennt auch die jetzige Situation einen „andauernden Genozid“. Hunger werde als Waffe gegen eine Ethnie eingesetzt, schrieb er in einem Gutachten für die armenische Seite.

Er appellierte an Russland, die USA und die Europäische Union, dies zu stoppen. „Deren intensive Konfrontation im Ukraine-Konflikt sollte nicht dazu führen, dass die Armenier ein Kollateralschaden werden.“ Doch bislang hat Diplomatie keine Lösung gebracht.

Apotheken haben nichts anzubieten

In der Hauptstadt Stepanakert und den anderen Orten in Berg-Karabach (armenisch: Arzach) ist das Leben äußerst beschwerlich geworden. Strom ist für einige Stunden da, dann fällt er wieder aus. Das Glasfaserkabel von Armenien nach Karabach für eine stabile Internetverbindung habe Aserbaidschan Mitte August gekappt, sagt ein Berater der Führung in Stepanakert, Artak Beglarjan.

Vor allem aber sind die Apotheken leer. Auf den Märkten gibt es kaum es etwas zu kaufen. Es fehlt an Benzin, um Obst und Gemüse aus dem Umland nach Stepanakert (aserbaidschanisch: Khankendi) zu bringen. Für Brot müssen die Menschen Schlange stehen. Für etwa 2.000 schwangere Frauen gebe es keine medizinische Betreuung, sagte der armenische Außenminister Ararat Mirsojan Mitte August im UN-Sicherheitsrat in New York. Und er berichtete von einem Mann, der ärztlichen Berichten zufolge an Unterernährung gestorben sei.

Russland kommt Verpflichtung nicht nach

Das öl- und gasreiche Aserbaidschan ist durch einen Sieg über die armenische Armee 2020 in die Position gekommen, Berg-Karabach abriegeln zu können. Vorher hatten die Armenier seit 1992 nicht nur Berg-Karabach verteidigt, sondern auch große Teile Aserbaidschans besetzt gehalten. Doch im Krieg 2020 verlor Berg-Karabach, einst etwa 4.400 Quadratkilometer groß, zwei Drittel seines Territoriums. Aliyevs Truppen rückten bis an die Grenze des Mutterlandes Armenien vor.

Die Schutzmacht Russland stand Armenien nicht militärisch bei. Sie setzte durch, dass russische Truppen den Waffenstillstand überwachen. Zu den übernommenen Pflichten gehört eigentlich auch, bis 2025 den Transportweg über die Gebirgsstraße von Latschin offen zu halten. „Putin, halte Wort!“, steht deshalb auf Plakaten bei Protestaktionen in Stepanakert. Doch das Russland von Präsident Wladimir Putin hat durch den Krieg gegen die Ukraine an Einfluss verloren.

Die Karabach-Führung um Republikchef Araik Harutjunjan wiederum will die Straße in die aserbaidschanische Stadt Agdam nicht öffnen. Das Gebiet könne leicht von dort versorgt werden, schlägt Baku vor. Karabach blockiere sich selbst.

Streit um Grenzen

Die Armenier haben über die vergangenen Jahrzehnte keinen Unterschied gemacht zwischen ihrem Staat und dem armenischen Siedlungsgebiet auf dem Territorium Aserbaidschans. Erst bei Verhandlungen unter Ägide der EU bekannte sich der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan zu den Grenzen des Nachbarlandes - einschließlich Berg-Karabach.

Paschinjans Zugeständnis - für die EU eine Voraussetzung für einen Friedensvertrag - stößt aber in seiner Heimat auch auf Kritik. Er habe damit ein Druckmittel aus der Hand gegeben, sagte die ehemalige armenische Botschafterin in den Niederlanden, Dsjunik Agadschanjan.

„Der Latschin-Korridor ist die Nabelschnur, die Arzach mit Armenien verbindet“, sagte sie. „Wenn man sie durchschneidet, beginnt die Liquidierung Armeniens.“ Sie befürchtet, dass der Konflikt einen weiteren Krieg im Südkaukasus auslösen könnte. (dpa)

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