NRW / Gesundheitskongress des Westens

Bergmann: „Wir wollen versorgen, doch die Bürokratie zermürbt die Kollegen“

Dr. Frank Bergmann steht seit Anfang 2017 an der Spitze der KV Nordrhein. Im Interview mit der „Ärzte Zeitung“ spricht der 64-jährige Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie aus Aachen über die zentralen Themen der Versorgung.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Das Konkurrenzdenken in der Notfallversorgung sei längst überwunden, so KVNo-Chef Dr. Frank Bergmann. Beim Gesundheitskongress des Westens Anfang September ist er unter anderem bei einer Diskussionsrunde zur „116 117“ dabei.

Das Konkurrenzdenken in der Notfallversorgung sei längst überwunden, so KVNo-Chef Dr. Frank Bergmann. Beim Gesundheitskongress des Westens Anfang September ist er unter anderem bei einer Diskussionsrunde zur „116 117“ dabei.

© KVNo

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Bergmann, was ist für Sie die wichtigste Lehre aus den bisherigen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie?

Dr. Frank Bergmann: Wir können sehr froh sein, dass wir in Deutschland ein differenziertes System aus stationärer und vertragsärztlicher Versorgung haben. Das hat in der Pandemie den Krankenhäusern und den Krankenhaus-Ambulanzen den Rücken freigehalten. Die Aufrechterhaltung der Regelversorgung und zusätzlich mehr als drei Viertel der Versorgung von Corona-Patienten hat der niedergelassene Bereich übernommen.

Die Zeichen stehen also nicht auf Konfrontation zwischen stationärem und ambulantem Sektor?

Die Kooperation und die Vernetzung der stationären Angebote und ihres besonderen Leistungsspektrums mit den Spezifika des ambulanten Systems sind und bleiben notwendig.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein Beispiel ist die Notfallversorgung, kein typisches Corona-Thema. Wir sind seit Jahren dabei, die Versorgung gemeinsam zu gestalten, gerade auch in Nordrhein-Westfalen. Das Konkurrenzdenken haben wir längst überwunden, wie die Portalpraxen sehr gut zeigen. Ich halte das für ein in erster Linie herbeigeredetes Problem, und zwar aufgrund berufspolitischer Partialinteressen. Es gibt Notfälle, die zwingend in den stationären Bereich gehören, andere gehören in den ambulanten Bereich.

Also keine Konkurrenz?

Eine Konkurrenzsituation in der Sache sehe ich nicht. Vor allem in ländlichen Regionen gibt es zwischen den Krankenhäusern und den niedergelassenen Ärzten ein sehr gutes Miteinander. Im Grunde sind die Krankenhäuser froh, wenn sie von bestimmten Fällen entlastet werden. Das wird auch der Weg der Zukunft sein.

Welche Effekte hat die Corona-Pandemie auf die Ausgestaltung der Versorgung?

Durch die Pandemie haben wir auf allen Ebenen einen Digitalisierungsschub im positiven Sinn erleben können. Telemedizinische Angebote wie Videosprechstunden, die früher nur vereinzelt angeboten und in Anspruch genommen wurden, sind exponentiell nach oben gegangen. Das wird auch nach der Pandemie bleiben, wenn auch vielleicht nicht in diesem Ausmaß.

Teilen Sie die Angst mancher Ärzte vor einer Beeinträchtigung des Arzt-Patienten-Verhältnisses?

Der persönliche Kontakt ist das Herz der Arzt-Patienten-Beziehung, und das wird auch so bleiben. Aber bei einer stabilen therapeutischen Beziehung spricht nichts gegen eine Videosprechstunde. Sie ist ein Add-on, ein zusätzliches Element der Versorgung.

Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte gelten als digitalisierungsfeindlich. Wie schätzen Sie das ein?

Ärzte sind nicht per se digitalisierungsfeindlich. In den meisten Praxen wird schon längst nicht mehr auf Papier, sondern elektronisch dokumentiert. Die Bedenken beziehen sich eher auf die Datensicherheit, etwa bei der elektronischen Patientenakte. Ich gehe davon aus, dass sich solche Formate perspektivisch aber durchsetzen werden.

Warum?

Wir sind in der Bredouille: Wir wollen nicht, dass sich Anbieter aus dem Ausland durchsetzen, die unseren Sicherheitsansprüchen gar nicht genügen. Gleichzeitig sind wir mit den hiesigen Angeboten noch nicht zufrieden. Daher braucht es einen Weg, bei dem wir wissen, wo die Server stehen und wo wir die Sicherheitsaspekte gut einschätzen können. Gleichwohl dürfen wir die Entwicklung nicht so lange verzögern, bis die Patienten mit den Füßen abstimmen und sich privatwirtschaftliche Anbieter große Marktsegmente sichern.

Welchen Stellenwert räumen Sie mit Blick auf die Sicherstellung der Versorgung der Delegation von ärztlichen Leistungen ein?

Einen sehr hohen Stellenwert. Es gibt besondere Qualifikationen der Medizinischen Fachangestellten, zertifizierte Aus- und Weiterbildungsangebote für den hausärztlichen Bereich und für die verschiedenen fachärztlichen Disziplinen. Unsere MFA kennen die Besonderheiten der Praxen und der Patienten. Wenn wir sie gut qualifizieren, gibt es viele Tätigkeiten, die wir delegieren können. Dadurch können die Ärzte spürbar entlasten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung auch in der Ärzteschaft.

Warum passiert in diesem Bereich dann nicht mehr?

Um den MFA-Beruf auf Dauer attraktiv zu halten, müsste sich insbesondere die Honorierung verbessern. Das ist aktuell ein großes Problem. Denn die Tarifabschlüsse werden in den Honorarverhandlungen mit den Kassen nicht hinreichend abgebildet. Das geht zu Lasten der MFA und ihrer Qualifikation und damit zu Lasten der Praxen und letztlich der Patienten.

Was macht Ihnen mit Blick auf die Zukunft noch Sorgen?

Ein wesentliches Thema: Wie gelingt es, endlich die Bürokratie in den Praxen abzubauen? Das Problem haben wir in der Pandemie wieder schmerzhaft zu spüren bekommen. Wenn man alle Aufklärungs-, Einwilligungs- und sonstigen Formulare zum Impfen aufeinanderstapeln würde, kämen wir allein in Nordrhein auf eine Höhe von 3500 Metern, das ist höher als die Zugspitze. Wir dokumentieren uns wirklich zu Tode. Wir haben permanent neue Regelungen, neue Erlasse, das treibt die Praxen in den Wahnsinn. Wir wollen versorgen, aber eine derartige Bürokratie macht die Kolleginnen und Kollegen mürbe.

Wie schlägt sich das nieder?

Es gibt Ärztinnen und Ärzte, die gehen jetzt in den Ruhestand, obwohl sie eigentlich noch zwei, drei Jahre weitermachen wollten, aber sich die Bürokratie nicht mehr antun wollen. Das muss man ernst nehmen.

Was muss passieren?

Wir müssen radikal entrümpeln. Es kann nicht sein, dass es für jede Impfung einen anderen Bestellweg gibt und unendliche kassenspezifische Besonderheiten und Abrechnungswege. Es gibt viele Möglichkeiten, die Versorgung zu vereinfachen und schneller zu machen – das muss das Ziel sein.

Sehen Sie hier auch die Politik in der Pflicht?

Die Regelung von Details ist Aufgabe der Selbstverwaltung und muss es auch bleiben. Aber die Politik muss an dieser Stelle ganz klar die Forderung adressieren und gegebenenfalls konkretisieren, dass Bürokratie spürbar abgebaut werden muss.

Gesundheitssystem am Limit? Diskutieren Sie mit!

  • Am 7. und 8. September haben Sie die Möglichkeit, auf dem Gesundheitskongress des Westens mit Gesundheitspolitikern, Standesvertretern und anderen Playern im Gesundheitswesen über die Zukunft der Versorgung zu diskutieren.
  • Fragerunde mit Jens Spahn: Ein Highlight ist die Fragerunde mit Gesundheitsminister Jens Spahn am Dienstag, 7. September, um 13:45 Uhr.
  • Online oder live vor Ort: Der Kongress findet als Hybridveranstaltung statt. Austragungsort ist der Kölner Gürzenich. Alle Sessions werden live online übertragen.

Weitere Infos und Anmeldung: www.gesundheitskongress-des-westens.de

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