Arndt Striegler bloggt
Brexit-Dividende? Ops, da haben wir uns vertan!
Der versprochene Geldsegen für den staatlichen Gesundheitsdienst wird nach dem Brexit ausbleiben. Das wird inzwischen auch dem letzten Briten klar. Im Gegenteil, der NHS wird teurer. Arndt Striegler bloggt aus einem verwirrten Land.
Veröffentlicht:Seit Britanniens Presse vor wenigen Tagen ihre staunende Leserschaft mit der Meldung überraschte, die von Premierministerin Theresa May versprochene "NHS Brexit-Dividende" von bis zu 350 Millionen Pfund (365 Millionen Euro) pro Woche werde es gar nicht geben, hagelte es öffentliche Vorwürfe in Richtung Brexit-Befürworter.
Von "Wählertäuschung" ist die Rede, einige wittern sogar "Landesverrat" oder noch schlimmeres. Dazu muss man wissen: EU-feindliche Politiker wie Ex-Außenminister Boris Johnson haben während ihrer "Leave"-Kampagne für den EU-Austritt stets mit dem Argument geworben: Über dem staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) wird nach März 2019 – dem endgültigen Austrittsdatum – ein warmer Geldsegen nieder gehen.
Nun stellt sich heraus: Pustekuchen! Nix da mit "Brexit-Dividende". Im Gegenteil: Wenn die Londoner Regierung – wie kürzlich versprochen – die Gesundheitsausgaben in den kommenden fünf Jahren inflationsbereinigt um "mindestens 3,4 Prozent" erhöhen will, dann müssen dafür die Steuern erhöht werden.
Das jedenfalls prophezeien die Leute, die es eigentlich wissen sollten: Experten des angesehenen Office for Budget Responsibility (OBR), ein öffentliches bestalltes Gremium, das die Entwicklung der öffentlichen Finanzen begutachtet. Da hilft es nur wenig, wenn die OBR-Experten hinzufügen, dass diese absehbare Entwicklung nicht nur mit im Brexit-Wahlkampf gemachten Falschaussagen zu tun habe. Denn weitere Ursachen für die steigenden Gesundheitskosten seien die im Schnitt immer älter werdende Bevölkerung in Großbritannien und Fortschritte in der Entwicklung neuer (Arzneimittel-) Therapien.
Freilich: die Hiobsbotschaft der ORB-Experten kommt für viele in Großbritannien nicht aus heiterem Himmel. Angesehene Institutionen wie die London School of Economics (LSE) und auch renommierte Finanzexperten hatten von Anfang an gesagt, eine Brexit-Dividende werde es nicht geben. Im Gegenteil: Die volkswirtschaftlichen Verluste seien größer als die an Brüssel überwiesenen Beiträge für die EU (13,5 Milliarden Euro im Jahr 2016).
Da passt ins Bild, das vor wenigen Tagen die Europäische Arzneimittelbehörde (European Medicines Agency, EMA) öffentlich vor möglichen Engpässen bei der Arzneimittelversorgung in der EU nach dem Brexit warnte. Zu viele Hersteller hätten sich bislang nicht ausreichend auf den Austritt der Briten vorbereitet. Betroffen: viele dutzend verschreibungspflichtige Medikamente.
Und, da ein Unglück selten allein kommt, schockierte kürzlich auch folgende Meldung: Sowohl in den EU-Hauptstädten als auch in London bereitet man sich inzwischen ernsthaft auf das Horror-Szenario eines "No-Deal-Brexit" vor.
Was das genau bedeuten würde für die mehr als drei Millionen in Großbritannien lebenden EU-Bürger wie mich, ist zwar noch unklar. Dass es allerdings sogar zu Lebensmittelknappheit in den Supermärkten kommen könnte, weil an den Grenzen Kolonnen von mit Nahrung beladenen Lkw nicht mehr zeitnah abgefertigt werden können – das ist inzwischen wahrscheinlicher geworden. Vom unterbrochenen Flugverkehr zwischen der Insel und dem Festland ganz abgesehen.
Sie sehen also, lieber Leserin, lieber Leser, die Stimmung hier im Land der Queen und des Afternoon-Teas ist derzeit hundsmiserabel – was auch zu meiner persönlichen Stimmung passt. Ich bin übrigens gerade dabei, mein Londoner Wohnhaus, in dem ich seit fast 25 Jahren glücklich lebe, zu verkaufen – um mein Geld noch vor dem Brexit aus dem Land zu holen.