Arndt Striegler bloggt
Der Brexit-Gewinn für den NHS: Es gilt das gebrochene Wort
Von den Ankündigungen der "Leave Campaign" ist nichts übrig geblieben. 350 Millionen Pfund sollte der nationale Gesundheitsdienst NHS nach dem Brexit mehr bekommen – wöchentlich! Das Geld würde gerade in diesen Wochen dringend in Praxen und Kliniken gebraucht, schreibt Arndt Striegler in seinem Blog.
Veröffentlicht:LONDON. Heute soll es im Blog zunächst um das Lieblingsthema der Briten schlechthin gehen: Money, Money, Money. Darüber wurde in den vergangenen Tagen in Brüssel sowohl vor laufenden Kameras und Mikrofonen der Journalisten, als auch hinter den Kulissen geredet und heftig gestritten.
Zentral dabei ist die Frage: Wie viel soll Großbritannien bezahlen, wenn es Ende März 2019 wie geplant die EU verlässt? London bot ursprünglich "20 Milliarden Pfund" (das sind beim heutigen Pfundkurs nur noch etwas mehr als 20 Milliarden Euro) Brüssel wollte und will ein Vielfaches davon.
Jetzt ist man sich zumindest näher gekommen. Von "zwischen 40 und 50 Milliarden Euro" war zuletzt die Rede und beide Seiten scheinen damit auch mehr oder weniger zufrieden zu sein. Für London ist das ein recht großes Zugeständnis und Entgegenkommen.
Der britische Außenminister Boris Johnson posaunte noch vor wenigen Monaten, Brüssel könne auf Zahlungen aus London pfeifen, denn man sehe nicht ein, überhaupt irgendetwas für die Scheidung von der EU zu bezahlen. Die Briten sprechen übrigens in diesem Zusammenhang gerne von einer "Scheidungsrechnung" (divorce bill). Was natürlich irreführend ist, denn es handelt sich bei den EU-Forderungen lediglich um den Ausgleich für künftigen finanziellen Verpflichtungen, die Großbritannien in über 40 Jahren als EU-Mitglied bereits eingegangen ist. Um eine Strafzahlung, wie britische Medien dies gerne darstellen, geht es ganz und gar nicht.
Handelsmacht oder Krämerseele?
Gleichzeitig weiß die britische Premierministerin Theresa May, dass es ohne eine finanzielle Einigung mit Brüssel keine weiteren Verhandlungen über künftige Handelsbeziehungen und eine Übergangsphase nach März 2019 (im Gespräch sind da derzeit zwei Jahre) geben wird. Und Britannien sieht sich nun mal immer noch gerne als globale Handels-Großmacht. Derzeit allerdings assoziiert man Britannien eher mit kleinkarierten Krämerseelen hat.
Aus der Sicht der britischen Ärzte und der mehr als eine Million Beschäftigten des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) ist das Thema Geld und Brexit freilich gleich aus zwei Gründen von großer Bedeutung: Zum einen fehlt das Geld in den staatlichen Primärarztpraxen und Kliniken an allen Ecken und Enden.
Zum zweiten aber – und das ist wichtig, wenn man verstehen will, warum die knappe Mehrheit der Briten im Juni 2016 für das Goodbye von der EU votierten – steht da immer noch ein Versprechen der "Leave Campaign" im Raum, wonach der NHS nach einem EU-Austritt "wöchentlich 350 Millionen Pfund" mehr Geld bekommen werde.
Im Vorfeld der historischen Abstimmung Ende hatten führende Politiker, darunter auch der heutige Außenminister Boris Johnson, versprochen, ein EU-Austritt werde wöchentlich dreistellige Millionenbeträge sparen. Dieses Geld solle dann in den maroden staatlichen Gesundheitsdienst investiert werden.
Nachfolger läuft sich warm
Natürlich war das, genau wie viele andere Versprechen der EU-Gegner, eine glatte Lüge. Dennoch haben Millionen von Briten noch immer genau diese Zahl im Kopf: 350 Millionen! Jede Woche! Wäre das nicht wunderbar! Erst vor wenigen Tagen griff einer der einflussreichsten konservativen Politiker, Jacob Rees-Mogg, genau dieses Thema wieder auf. Rees-Mogg, der von Beobachtern als möglicher Nachfolger von Theresa May gehandelt wird, plädiert dafür, nach dem Brexit tatsächlich wöchentlich 350 Millionen Pfund zusätzlich für die Gesundheitsversorgung auszugeben. "Dieses Brexit Versprechen muss unbedingt eingehalten werden", forderte er. Sonst verliere man bei den Wählern das Vertrauen.
Einziger Haken bei der Sache: Es wird keine 350 Millionen Pfund pro Woche an Einsparungen nach einem EU-Austritt geben, die dann in die maroden Praxen und Kliniken investiert werden könnten. Was freilich in Großbritannien anno 2017 kaum jemanden zu stören scheint.
Dementsprechend gesundheitspolitisch interessant dürften auch die kommenden zwei Wochen werden: Sollten London und Brüssel sich auf eine Ausgleichszahlung einigen und sollte als Folge dessen die immer noch reale Gefahr eines "No-deal-Brexit" gebannt sein, werden britische Wähler angesichts einer gerade besonders schlimmen Versorgungskrise im primärärztlichen Sektor als auch in den staatlichen Krankenhäusern nach "350 Millionen Pfund wöchentlich mehr für den NHS" schreien.
Ob dann Theresa May immer noch Regierungschefin sein wird – who knows? Mister Rees-Mogg jedenfalls steht schon in den Startlöchern.