Einigung im Bundestag
Cannabis als Medizin – Kassenleistung statt Kulturkampf
Vor zwei Jahren taten sich im Bundestag noch Gräben im Umgang mit Cannabis auf. Jetzt ist sein Einsatz als Medizin geregelt worden. Die unwürdige Situation betroffener Patienten war Motor für den Konsens der Fraktionen.
Veröffentlicht:Dass der Bundestag vergangene Woche den Umgang mit Cannabis als Medizin auf eine solide rechtliche Grundlage gestellt hat, grenzt an ein Wunder. Jahrelang trug die Debatte über dieses Thema Züge eines Kulturkampfs. Und jetzt fasste der Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen einen Beschluss, dessen Namen nüchterner kaum sein könnte: Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften.
Mit Parolen wie "Kiffen auf Rezept" oder "Recht auf Rausch" ist über Jahre hinweg eine Debatte über den generalpräventiven Charakter des deutschen Betäubungsmittelrechts geführt worden. Samthandschuhe waren dabei nicht gefragt. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Marlene Mortler beklagte sich im März 2015 in einer Bundestagsdebatte über die "brutalste Lobby, die ich in meiner bisherigen politischen Arbeit erlebt habe". Sie habe Morddrohungen im Internet erhalten, berichtete sie.
Der Weg zu einer politischen Befriedung war lang. Noch 2015, als die Grünen ihren Antrag für ein "Cannabiskontrollgesetz" vorstellten, schlugen alte Stereotypen in der Debatte durch. "Kümmern Sie sich besser um natürliche geistige Energie, die Sie frisch hält", empfahl Mortler den Grünen, die für einen kontrollierten legalen Markt für Cannabis plädierten. Die Grünen wiederum wünschten sich eine "vernünftige Regelung, die die sinnlose und teure Kriminalisierung beendet" und Kinder und Jugendliche wirksam schütze. Das "Wiederkäuen längst widerlegter Vorwürfe" beim Thema Cannabis müsse aufhören", forderte die grüne Abgeordnete Katja Dörner.
Elf Patienten starben auf der "Warteliste"
Eine Wende in der Debatte gelang erst, als sich alle Fraktionen ausschließlich auf schwerkranke Patienten konzentrierten, die sich Linderung erhoffen. Denn der Status quo ist für Patienten unbefriedigend: Wer Cannabis in einer Apotheke zur begleiteten Selbsttherapie erwerben wollte, brauchte bisher eine Ausnahmegenehmigung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Zuletzt verfügten bundesweit 1004 Patienten über einen solchen Bescheid. Allerdings starben seit Februar 2015 elf Patienten, bevor ihr Antrag beschieden wurde.
Neben Schmerzpatienten sind etwa Spastiken bei MS oder das Tourette-Syndrom häufige Indikationen, die bei einem Antrag geltend gemacht wurden. Die finanzielle Bürde wird den Schwerkranken damit nicht genommen: 540 Euro monatlich kostet bisher die Patienten im Durchschnitt der Erwerb von Cannabis – in einzelnen Fällen über 1000 Euro.
Nachdem Mortler Anfang 2015 eine Kehrtwende im Verhältnis zu Cannabis als Medizin verkündete, dauerte es noch über ein Jahr, bis ein erster Gesetzentwurf vorlag. Und auch der schmorte ein halbes Jahr in den Bundestagsausschüssen – die Union hat sich bis zuletzt mit einem "Ja" schwergetan.
Die Regierungsfassung des Gesetzes spiegelte denn auch noch die Misstrauenskultur vergangener Zeiten: dem verordnenden Arzt sollte regelhaft der Medizinische Dienst der Krankenkassen vor einer Kostenerstattung über die Schulter schauen. Und der Patient musste, bevor er auf eine Cannabis-Verordnung hoffen durfte, "austherapiert" sein. Alle anderen Möglichkeiten der Therapie mussten wie in einer Odyssee zuvor ausprobiert sein.
Dass sich dieses Vorgehen schwer verträgt mit dem Anspruch, die palliativmedizinische Versorgung aufzuwerten, dämmerte auch der Union. So ist es kein Wunder, dass Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe diesen Aspekt ins Schaufenster stellte: Im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) müssen Kassen nun sogar binnen drei Tagen über den Antrag auf Erstattung von Cannabis entscheiden. Fristen, von denen Patienten bisher nur träumen konnten.
Gefahr durch die Szene der "Eigenanbauer"
Noch eine andere Motivation beflügelte den Sinneswandel: Ein MS-Patient erhielt im April 2016 vom Bundesverwaltungsgericht die Möglichkeit zugesprochen, Cannabis selbst anzubauen. Zwar war er im Besitz einer BfArM-Genehmigung, doch seine Ausgaben addierten sich auf bis zu 1500 Euro pro Monat. Die Behörde hatte ihm den Eigenanbau mit Verweis auf die ungesicherte Qualität verweigert.
Spätestens als der erste "Erlaubnisinhaber" im Oktober 2016 grünes Licht erhielt, um 20 Cannabispflanzen in seinem Badezimmer zu züchten, wurde der Union klar, dass diese "Home-grown"-Bewegung nur durch eine klare gesetzliche Regelung eingefangen werden kann. Selbst der Hanf-Verband lobte, mit dem neuen Gesetz werde Deutschland "zu einem der weltweit führenden Länder in Sachen Cannabis als Medizin". Doch der Streit über Cannabis als legale Genussdroge dürfte nach der Bundestagswahl eine neue Auflage erleben.