Gefahren ständiger Erreichbarkeit
"Das Unfall- und Fehlerrisiko nimmt zu"
Auch in der Freizeit berufliche Mails checken - für viele ist das zwar Alltag, gesundheitlich ist das aber höchst bedenklich. Forscher arbeiten jetzt an Spielregeln, um der ständigen Erreichbarkeit einen Riegel vorzuschieben.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Frau Dr. Pauls, an wen richten sich die Spielregeln, die Sie in Ihrem Projekt MASTER (Management ständiger Erreichbarkeit) erarbeiten?
Dr. Nina Pauls
Seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Wirtschaftspsychologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Forschungsprojekte zu den Themen Arbeit und psychische Gesundheit mit Schwerpunkten Work-Life-Balance, psychische Widerstandskraft (Resilienz), arbeitsbezogene erweiterte Erreichbarkeit.
Dr. Nina Pauls: Wir erarbeiten die Leitlinien für Erreichbarkeit nicht allein, sondern entwickeln sie zusammen mit Beschäftigten und Führungskräften in unseren fünf Kooperationsunternehmen aus der IT-Branche.
Daraus ergibt sich, dass die Leitlinien nicht nur für Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite allein gelten werden, sondern für das Unternehmen und die internen Prozesse, aber auch für die Führungskräfte und jeden einzelnen "erreichbaren" Beschäftigten.
Anschließend werden sie gebündelt und über Multiplikatoren auch anderen Unternehmen zugänglich gemacht.
Das Internet und mit ihm die ständige Erreichbarkeit gibt es ja bereits seit vielen Jahren. Warum halten Sie festgelegte Spielregeln gerade jetzt für notwendig?
Pauls: Gerade, was das Smartphone betrifft, verschwimmen Grenzen immer mehr. Viele der Beschäftigten, mit denen wir sprechen, trennen beispielsweise gar nicht mehr zwischen privatem und dienstlichem Gerät, sie haben nur noch eines.
Die Entwicklung betrieblicher Regelungen - übrigens auch die Forschung - hinkt dieser technologischen Entwicklung hinterher. Daher möchten wir versuchen, zeitgemäße Leitlinien, unter enger Beteiligung derer, die das wirklich im Arbeitsalltag erleben, zu entwickeln.
Stichwort Globalisierung: In weltweit tätigen Unternehmen ist es nun einmal so, dass Arbeitszeiten sich überschneiden und Meetings aufgrund der Zeitverschiebung auch mal außerhalb der tagesüblichen Arbeitszeit stattfinden müssen. Wie kann man diesen Konflikten begegnen?
Pauls: Wer abends oder am Wochenende arbeitet, muss einen entsprechenden Ausgleich dafür erhalten. Natürlich gibt es Jobs, die die Erreichbarkeit erforderlich machen. Aber sie wird häufig auch für Kleinigkeiten genutzt, das muss nicht sein.
Von Ihnen zitierte Studien belegen, dass ständige Erreichbarkeit Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat, andererseits sprechen Sie auch von Potenzialen für die Work-Life-Balance. Welche positiven Aspekte sehen Sie?
Pauls: Wenn Erreichbarkeit so gestaltet ist, dass Ausgleich und Abschalten sowie eine flexible Nutzung möglich sind, sollte sie die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben sogar verbessern.
Beschäftigte mit Kindern können dann beispielsweise früher gehen und sich abends, wenn die Kinder im Bett sind, noch in Ruhe einer Arbeitsangelegenheit widmen. Besonders herausfordernd ist dann natürlich die persönliche Grenzziehung.
Vor Kurzem hat der Arbeitgeberverband Schlagzeilen mit dem Vorschlag gemacht, die Tagesarbeitszeit zur Wochenarbeitszeit weiterzuentwickeln.
Pauls: Die Umstellung würde bedeuten, dass man ohne Genehmigung über zehn Stunden pro Tag arbeiten darf, wenn im Mittel die 48 Stunden nicht überschritten werden. Ich sehe das kritisch, denn wir wissen, dass etwa das Unfall- oder Fehlerrisiko nach acht Stunden Arbeit zu-, die Leistungsfähigkeit abnimmt.
Von den Forderungen sind mit Einschränkungen auch die gesetzlich festgelegten Ruhezeiten betroffen. Hier könnte man sich Lockerungen vorstellen, zum Beispiel, wenn diese eine andere Verteilung der Arbeitszeit beinhalten und somit eine bessere Vereinbarkeit von Familien und Privatleben ermöglichen.
Wie umfangreich werden die Ergebnisse Ihres Projekts ausfallen, also wie viele Spielregeln sind nötig, um klare Grenzen zu setzen?
Pauls: Das wird unterschiedlich sein und ganz vom jeweiligen Unternehmen, Team beziehungsweise der Aufgabe abhängen. Ich denke aber, dass sich die wirklich handhabbaren Regelungen auf einige Kernpunkte zusammenfassen lassen.
Sollen Ihre Spielregeln allgemeingültig anwendbar sein - oder muss jedes Unternehmen individuelle Spielregeln erarbeiten?
Pauls: Erreichbarkeit ist ein sehr individuelles Thema, das ist eines der Ergebnisse der ersten Analysen. Daher wird es keine Patentlösungen geben, die man über Branchen und Unternehmen hinweg blind empfehlen kann. Es wird aber ein Prozess erarbeitet werden sowie Best-Practice-Beispiele von umgesetzten Leitlinien, die als Vorlage für weitere Unternehmen dienen können.
Aktuell werten Sie erste Ergebnisse aus. Wie geht es weiter, welchen Zeitrahmen haben Sie sich gesteckt?
Pauls: Anfang nächsten Jahres werden wir die Analysephase aus Interviews und Befragung abschließen. Dann starten wir in die Maßnahmenentwicklung und -umsetzung, sind im Rahmen von Workshops bei den Unternehmen vor Ort.
Die entwickelten Leitlinien werden dann über mindestens 6 Monate umgesetzt und deren Wirkung mit weiteren Analysen überprüft. 2017 werden die Gestaltungsempfehlungen entwickelt und verbreitet, wir bieten etwa eine Expertenschulung für Berater, Personalverantwortliche und Führungskräfte zum "Management arbeitsbezogener erweiterter Erreichbarkeit" an. Das Projekt endet dann im Herbst 2017.
Wie wollen Sie die Unternehmen erreichen, die bisher kein Interesse am Thema Erreichbarkeit zeigen?
Pauls: Wir verbreiten die Projektergebnisse über Veranstaltungen, Messen und Presse, außerdem über Soziale Netzwerke. Wir haben beispielsweise ein Erklärvideo entwickelt, welches bei Youtube und auf unserer Projekthomepage zu finden ist.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin begleitet Ihr Projekt fachlich, unterstützt werden Sie von Verbänden, Gewerkschaften und Krankenkassen. Werden Ihre Ergebnisse mit einer Verbindlichkeit zur Umsetzung verbunden sein?
Pauls: Die Umsetzung ist Kernaufgabe des Projekts, bereits in der aktiven Laufzeit. Letztlich möchten alle Parteien, dass Beschäftigte auch unter hohen Anforderungen wie Erreichbarkeit, gesund und arbeitsfähig bleiben.
Dazu braucht man wirkungsvolle Präventions- und Gestaltungsansätze und diese sollen Projekte wie MASTER liefern! Eine wichtige Aufgabe für alle Partner besteht dann darin, die entwickelten Gestaltungsansätze nach Projektabschluss nicht einschlafen zu lassen, sondern weiterzuverfolgen.
Weitere Informationen zur MASTER-Studie gibt es auf www.erreichbarkeit.eu.