Stellungnahme vorgelegt

Corona-Expertenrat empfiehlt Strategiewechsel in der Pandemie-Politik

Während die Ampel-Koalition über den Corona-Kurs für Herbst und Winter streitet, spricht sich der Expertenrat der Bundesregierung für eine „vorausschauende Vorbereitung mit kurzen Reaktionszeiten“ aus.

Veröffentlicht:
Wie geht es mit Maske und anderen Corona-Maßnahmen im Herbst und Winter weiter? Die Diskussion darüber ist in vollem Gang.

Wie geht es mit Maske und anderen Corona-Maßnahmen im Herbst und Winter weiter? Die Diskussion darüber ist in vollem Gang.

© Christoph Hardt / Geisler-Fotopress / picture alliance

Berlin. In der Debatte um das weitere Vorgehen in der Corona-Pandemie hat sich der Expertenrat der Bundesregierung für einen Strategiewechsel von bisherigen Ansätzen zur Eindämmung hin zu einem Schutz vulnerabler Gruppen ausgesprochen. Zudem sei die Impfkampagne wieder zu intensivieren, um schwere Erkrankungen abzumildern, heißt es in einer am Mittwoch in Berlin vorgestellten Stellungnahme des 19-köpfigen Gremiums.

Die Kurskorrektur hänge freilich davon ab, wie sich die Pandemie in den nächsten Monaten entwickele. Das gelte insbesondere vor dem Hintergrund der auch in Deutschland zunehmenden BA.5-Subvariante.

Drei Szenarien denkbar

Für den Fall erneut stark steigender Inzidenzen im Herbst bedürfe es einer „vorausschauenden Vorbereitung mit kurzen Reaktionszeiten“, heißt es in dem gut 20-seitigen Papier des Rats. Die verbleibende Impflücke in der Bevölkerung und die abnehmende Immunität sowie die fortschreitende Virusevolution würden das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur dann „wahrscheinlich erneut erheblich belasten“.

Lesen sie auch

Denkbar seien drei verschiedene Szenarien. Im „ungünstigsten“ Fall trete eine neue Virusvariante mit einer Kombination aus „verstärkter Immunflucht“ und erhöhter Krankheitslast. Bei diesem Szenario könnten erneut flächendeckende Maßnahmen wie Masketragen und Abstandsgebote in Innenräumen, aber auch Kontaktbeschränkungen „nach regionaler Maßgabe“ nötig sein.

Denkbar halten die Expertinnen und Experten aber auch ein Szenario, bei der eine im Vergleich zu Omikron weniger krankmachende Virusvariante das Infektionsgeschehen dominiere und weniger einschneidende Maßnahmen erforderlich seien. Entscheidend sei generell, dass Maßnahmen einheitlich und schnell umgesetzt würden. „In jedem Fall“ brauche es für die Vorbereitung auf den kommenden Herbst eine „solide rechtliche Grundlage für Infektionsschutzmaßnahmen“, heißt es in der Stellungnahme.

Kroemer: Wollen keine dramatischen Bilder erzeugen

Der Vorsitzende des Expertenrats, der Vorstandschef des Berliner Universitätsklinikums Charité Professor Heyo Kroemer, betonte, das Gremium wolle mit seinen Empfehlungen „keine dramatischen Bilder erzeugen“. Die Stellungnahme solle vielmehr zu einer „nüchternen“ Betrachtung der Lage beitragen und der Politik einen „Planungshorizont“ aufzeigen.

Vieles davon sei „einfach und schnell“ umsetzbar, zeigte sich Kroemer überzeugt. An Spekulationen über mögliche neue Lockdowns wolle sich der Expertenrat nicht beteiligen. „Wir halten sie im Moment für nicht besonders wahrscheinlich.“

Der Kölner Intensivmediziner Professor Christian Karagiannidis sagte, Deutschland müsse wegkommen von der Betrachtung der 7-Tage-Inzidenz hin zu einem „digitalen Echtzeit-Bild“ von der Pandemie. In dieses müssten auch Krankheitsschwere und Hospitalisierungsrate einfließen. Bei vielen Parametern sei man noch immer im „Blindflug“ unterwegs. Auch Kroemer kritisierte, es sei „besonders schwer erträglich“ gewesen, dass bei den Treffen von Bund und Ländern zur Corona-Lage häufig Daten gefehlt hätten.

FDP will Evaluation der Maßnahmen abwarten

In einer ersten Reaktion lobte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Stellungnahme des Expertenrats. „Erneut hat der Rat wichtige wissenschaftliche Empfehlungen für politische Entscheidungen gegeben. Das wird Basis für den Corona-Herbstplan der Bundesregierung“, sagte Lauterbach am Mittwoch.

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann erklärte, die Ausführungen des Expertenrats machten „unmissverständlich deutlich“, dass sich Deutschland für einen weiteren Anstieg des Infektionsgeschehens im Herbst wappnen müsse. „Wir sollten deshalb nicht bis zum September warten, um nötige Gesetzesänderungen auf den Weg zu bringen.“

Justizminister Marco Buschmann hatte dagegen betont, erst nach der geplanten wissenschaftlichen Beurteilung der Corona-Schutzmaßnahmen durch den Sachverständigenausschuss über die Regeln für den Herbst entscheiden zu wollen. Dass die derzeit geltende Fassung des Infektionsschutzgesetzes am 23. September auslaufe, sei kein zufällig gewähltes Datum, sagte der FDP-Politiker am Mittwoch im „ARD-Morgenmagazin“.

Das Datum sei so gewählt, „dass wir nach der Sommerpause zwei Sitzungswochen des Deutschen Bundestages haben, um ein ganz geordnetes, reguläres Gesetzgebungsverfahren zu durchlaufen“, so Buschmann.

Buschmann: Der Fahrplan steht

Ende Juni soll ein Expertengremium eine Evaluierung der Maßnahmen vorlegen. „Zwischen dem 30. Juni und dem Ende der Sommerpause werden wir gemeinsam mit den Ländern beraten, was zu tun ist“, sagte Buschmann. Das habe die Bundesregierung auch mit der Ministerpräsidentenkonferenz besprochen. „Warum jetzt einige meinen, dieser Fahrplan sei nichts mehr wert, das verstehe ich nicht.“

Auch der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, der Arzt Professor Andrew Ullmann betonte, nötig sei eine „besonnene und evidenzbasierte Vorbereitung“ für den Herbst. „Prophylaktische allgemeine Freiheitseinschränkungen, wie sie so mancher im politischen Berlin fordert“, werde es mit der FDP aber nicht geben.

Unterdessen rief der Sozialverband VdK Deutschland die Bundesregierung dazu auf, den Zugang zu den kostenlosen Bürgertests bis zum Winter zu verlängern. Hier sei Eile geboten, da die Testungen Ende Juni auslaufen sollten, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele am Mittwoch.

Das Bundesgesundheitsministerium hatte auf eine Anfrage der Ärzte Zeitung im April erklärt, es werde noch geprüft, ob die Bürgertests ab 1. Juli wegfielen oder einmal mehr in die Verlängerung gingen.

Lesen sie auch

VdK fordert Verlängerung kostenloser Bürgertests

VdK-Chefin Bentele sprach sich dafür aus, dass Pflegeheime und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen nur mit negativem Test betreten werden sollten. Nur so könne auch in der aktuellen Infektionslage die Sicherheit der Bewohner gewährleistet werden.

Die Länder bräuchten überdies die Möglichkeit, Maßnahmen wie eine Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr über den September hinaus zu verlängern und in Geschäften wiedereinführen zu können. Eine vierte Impfung sollte für das Pflegepersonal und für pflegende Angehörige „zum Standard“ werden, forderte Bentele. (hom/dpa)

Lesen sie auch
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema
Das könnte Sie auch interessieren
Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

© Janssen-Cilag GmbH

Video

Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Höhen- oder Sturzflug?

© oatawa / stock.adobe.com

Zukunft Gesundheitswesen

Höhen- oder Sturzflug?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

© MQ-Illustrations / stock.adobe.com

Digitalisierung

Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Die Chancen der Vitamin-C-Hochdosis-Therapie nutzen

© Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH

Vitamin-C-Therapie

Die Chancen der Vitamin-C-Hochdosis-Therapie nutzen

Anzeige | Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH
Medizinischer Infusions-Tropf mit buntem Hintergrund

© Trsakaoe / stock.adobe.com

Hochdosis-Therapie

Vitamin C bei Infektionen und Long-COVID

Anzeige | Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH
Internationaler Vitamin-C-Kongress im Juni

© Spinger Medizin Verlag

Vitamin C als hochdosierte Infusionstherapie

Internationaler Vitamin-C-Kongress im Juni

Anzeige | Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH
Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 08.06.202222:13 Uhr

"Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" Alexander Kluge 1968

Der Expertenrat hat weder Strategie noch Wechsel im Gepäck. Seine Ausführungen sind pseudo-/parawissenschaftliches Geplänkel: Der Ansatz der Eindämmung solle zu einem Ansatz des eindämmenden Schutzes vulnerabler Gruppen und der Abmilderung schwerer Erkrankungen mutieren, so die einfältige Tautologie der 19 WissenschaftlerInnen. Voraussetzung: Keine neuen gefährlichen Virusvarianten und Krankheitslasten. Das sind bei SARS-CoV-2/COVID-19 und anderen HN-Atemwegsinfektionen unerfüllbares Wunschdenken.

Die 3 Szenarien von Leif Erik Sander
"günstigter-"/"basis-"/"ungünstigster-"Verlauf sind reines Kaffeesatzlesen. Scheinheilig der Expertenrat: „Die Sicherung der sozialen Teilhabe durch Schul- und Kitabesuch sowie sportliche und kulturelle Aktivitäten muss weiterhin Priorität genießen“, denn genau dort finden sich die meisten primär Ungeimpften.

Bundespolitisch ist der Expertenrat keineswegs alleine. Die FDP ist ohne jegliche infektionsepidemiologische Kompetenz, Expertise, logische, praktische Venunft. Auch Dr. med. vet. Klaus Stöhr lag viel zu oft beschwichtigend mit seinen aktuellen WHO-Experten Dr. med. Hans Klein (WHO-Europa) und Nothilfekoordinator Dr. med. Michael (Mike) Ryan neben der Spur: Mit Schutzmasken-Skeptizismus, unangemessenem Optimismus über das Pandemie-Ende, mangelnder pädiatrischer Reflexion über zunächst ungeimpfte Säuglinge/Klein-/Schulkinder, die der Pandemie offen ausgesetzt und überlassen blieben. Der Ex-WHO-Leiter Influenza/SARS-1-Forschungskoordinator: „Im Paket, Impfung und dann noch Infektion draufsatteln, so wird man einen langanhaltenden Immunschutz gegen Corona haben“, klingt sozialdarwinistisch insbesondere für alle noch ungeimpften Alters- und Risikogruppen.

Die politische Maxime lautet: Entscheidungen für die Sars-CoV-2-/Covid-19-Pandemie-Zukunft müssen zur Not auch o h n e abgesicherte, wissenschaftliche Expertise getroffen werden.

Mf+kG, Ihr Dr. med. Thomas G. Schätzler, Facharzt für Allgemeinmedizin in Dortmund

Sonderberichte zum Thema
Dr. Antigone Fritz und Hubertus Müller sitzen trocken am PC. Dort zu sehen: ein Bild vom Hochwasser in Erftstadt vor drei Jahren.

© MLP

Gut abgesichert bei Naturkatastrophen

Hochwasser in der Praxis? Ein Fall für die Versicherung!

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: MLP
Abb. 1: Zeitaufwand pro Verabreichung von Natalizumab s.c. bzw. i.v.

© Springer Medizin Verlag GmbH, modifiziert nach [9]

Familienplanung und Impfen bei Multipler Sklerose

Sondersituationen in der MS-Therapie

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Biogen GmbH, München
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Ein Schild mit der Aufschrift „Praxis ist geöffnet“ hängt an der Eingangstür einer Arztpraxis in Berlin. Doch wer darf mit Termin eintreten? (Archivbild)

© Peter Kneffel / dpa

Debatte um Arzttermine

Lauterbach beklagt „Diskriminierung“ gesetzlich Versicherter

Krankenkassen haben zum Jahreswechsel schlechte Botschaften für ihre Mitglieder: die Zusatzbeiträge steigen stark. Die Kritik an versäumten Reformen der Ampel-Koalition ist einhellig.

© Comugnero Silvana / stock.adobe.com

Update

70 Kassen im Beitragssatz-Check

Höhere Zusatzbeiträge: So teuer wird Ihre Krankenkasse 2025