Deutschland ist führend bei der Selbstmedikation
Wichtige Arzneimittelwirkstoffe sind in den letzten Jahren rezeptfrei geworden. Eine Herausforderung auch für Ärzte. Experten plädieren deshalb für die arztgestützte Selbstmedikation - um Risiken zu meiden.
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Sichere Selbstmedikation war sein Anliegen: Dr. Bernd Eberwein (l.) wird als Geschäftsführer vom Vorsitzenden Hans-Georg Hoffmann verabschiedet.
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BERLIN. Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten im europäischen Vergleich eine führende Rolle in der Selbstmedikation erarbeitet. Das Prinzip der Eigenverantwortung des Patienten hat dabei einen weitaus höheren Stellenwert gewonnen - im doppelten Sinne: für die eigene Gesundheit und zweitens unter wirtschaftlichen Aspekten. Denn seit 2004 werden rezeptfreie Arzneimittel nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt. Die Selbstmedikation ist also auch eine Entlastung der Solidargemeinschaft.
Eine Bilanz der Entwicklung der letzten 30 Jahre zog der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) bei seiner jüngsten Jahresversammlung, bei der zugleich der langjährige Geschäftsführer des Verbandes, Dr. Bernd Eberwein, verabschiedet wurde. Er hat über fast drei Jahrzehnte als einer der Sachverständigen in einem Expertengremium die Vorschläge für den Wechsel von der Verschreibungspflicht zur Verschreibungsfreiheit - den sogenannten OTC-Switch - mitbearbeitet.
OTC-Switch
Einen Rückblick in die Rechtsgeschichte gab dazu Professor Johannes Löwer, der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel (BfArM). Das erste Arzneimittelgesetz trat 1961 in Kraft und sah einen Beirat vor, den Vorläufer des späteren Sachverständigenausschusses "Verschreibungspflicht". Seit 1981 existiert dieser Ausschuss, der nach einer Mehrheitsentscheidung dem Bundesgesundheitsministerium Wirkstoffe zur Entlassung aus der Verschreibungspflicht empfiehlt.
1981 war Deutschland, so Löwer, "noch ein Nobody beim Switch". Heute stehe Deutschland an der Spitze der Entwicklung in der EU. Beleg dafür seien die Switches von Aciclovir für die topische Anwendung 1992, das Deutschland als zweites Land nach Dänemark aus der Verschreibungspflicht entließ, und Naratriptan (Migräne, 2006), dem Deutschland als erstes europäisches Land eine Freigabe erteilte.
Eine Herausforderung der Zukunft ist die sachgerechte Patienteninformation. Aus der Sicht von Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen kommt es dabei entscheidend auch auf das Informationsverhalten der Ärzte und Apotheker bei der Selbstmedikation an.
"Selbstmedikation", so Dr. Bernd Eberwein, "kann auch in differenzierten Indikationen möglich sein, wenn die entsprechenden Informationen zugänglich und verständlich sind". Eberwein verbindet damit auch ein Plädoyer für das Grundprinzip der arztgestützten Selbstmedikation. Die Erstdiagnose sei in jedem Fall vom Arzt zu stellen, der auch die weitere Medikation begleiten sollte. Als Reaktion auf die Entscheidung des Gesetzgebers, dass rezeptfreie Arzneimittel seit 2004 keine Kassenleistung mehr sind, wurde das Grüne Rezept geschaffen - eine Unterscheidung zum Kassen- und Privatrezept.
Mit der Entwicklung neuer Informationstechnologien, vor allem des Internets, sind nach Auffassung von BfArM-Chef Löwer neue Herausforderungen entstanden. Er hält es für möglich, dass sich ein Teil der Patienten auf ausschließlich unkontrollierte, nicht sichere Informationen aus dem Internet abstützt und nicht die Chance wahrnimmt, den Arzt zu konsultieren.
OTC-Switches in den letzten zehn Jahren
Jahr | Arzneimittel | Anwendung |
1999 | Diclofenac | Rheuma (äußerlich) |
Nedocromil | Antiallergikum (Nase und Auge) | |
Famotidin | Magenübersäuerung, Sodbrennen | |
Ranitidin | Magenübersäuerung, Sodbrennen | |
2000 | Nicotin | Raucherentwöhnung (Kaugummi 4 mg, Sublingualtablette 2 + 4 mg) |
2001 | Terbinafin | Pilzerkrankungen (äußerlich) |
Ibuprofen | Schmerzen (flüssige Form) | |
Ranitidin | Magenübersäuerung, Sodbrennen (flüssige Form) | |
2002 | Naproxen | Schmerzen |
Ibuprofen | Schmerzen (Darreichungsform Zäpfchen) | |
Lodoxamid | Augentropfen | |
2003 | Azelastin | Augentropfen |
Triamcinolon | Hafttabletten (zur Anwendung im Mund) | |
2004 | Diclofenac | Schmerzen |
Flurbiprofen | Entzündung des Rachenraumes | |
Nicotin | Raucherentwöhnung (orale Zubereitungen, weitere Ausnahmen) | |
2005 | Penciclovir | Lippenherpes |
Ibuprofen | Migräne mit oder ohne Aura | |
Miconazol | Pilzerkrankungen der Mundhöhle | |
Minoxidil | Haarausfall | |
2006 | Naratriptan | Migräne |
2007 | Hydrocortison | Topische Anwendung (Erhöhung der Einzeldosis) |
Diclofenac | Erhöhung der Einzeldosis | |
2009 | Almotriptan | Migräne |
Omeprazol | Sodbrennen und saures Aufstoßen | |
Orlistat | Adipositas (von der EU-Kommission europaweit zugelassen) | |
Pantoprazol | Refluxsymptome (von der EU-Kommission europaweit zugelassen) | |
Quelle: BAH - Tabelle: Ärzte Zeitung |
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