Wochenkolumne aus Berlin

Die Glaskuppel zur EPA: Turbo-Test für die grüne Banane

Deutschland ist bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens spät dran. Dennoch gibt es nach wie vor gewichtige Stimmen, die vor überhasteter Einführung der elektronischen Patientenakte warnen. Und dann wäre da noch die Sache mit dem Nutzen von Gesundheitsdaten.

Von Anno Fricke Veröffentlicht:
 undrey /stock.adobe.com

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Wenn die Rede auf die Einführung der elektronischen Patientenakte in Deutschland kommt, greifen die politisch damit Betrauten gerne zu Superlativen. Vom größten IT-Projekt Deutschlands, ja Europas ist dann im federführenden Bundesgesundheitsministerium die Rede. Neulich hieß es aus der gleichen Ecke sogar, so etwas gebe es aktuell wohl „weltweit“ nicht ein zweites Mal.

Der Bundesgesundheitsminister schaut selbstredend über jeden Horizont hinaus: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens eröffne einen „Kosmos der Möglichkeiten“, sagte Karl Lauterbach vergangene Woche bei der Eröffnung der Digital Health Konferenz in Berlin. Die Zusammenschau von Daten aus elektronischen Patientenakten, Abrechnungsdaten von Krankenkassen und denen aus Registern schaffe Chancen für eine „bessere medizinische Forschung und Versorgung“.

Praxistest in Hamburg und im Frankenland

Das lässt sich so vermuten. Tatsächlich sind solche Prognosen im Augenblick noch verfrüht. Der Startschuss für die „ePA für alle“ ist noch nicht gefallen. Ab 15. Januar kommenden Jahres soll der Umgang mit den elektronischen Akten in den Testregionen Hamburg und Franken starten. Und auch dort nur in freiwillig teilnehmenden Praxen.

Im Augenblick gehen die Verantwortlichen im Bundesgesundheitsministerium davon aus, die Testphase im Februar kommenden Jahres abschließen und dann zum bundesweiten Roll-out der elektronischen Patientenakte ansetzen zu können.

Aus politischer Sicht ist diese Agenda folgerichtig. Die „ePA für alle“ würde zum Vermächtnis Lauterbachs. Eine vermutlich große Mehrheit der gesetzlich Versicherten im Land hätte zum Bundestagswahltermin am 23. Februar eine elektronische Patientenakte mit einem zumindest potenziell sich entwickelnden Nutzen in Aussicht oder schon zur Verfügung. Der dann wahlkämpfende Gesundheitsminister Lauterbach könnte für sich reklamieren, der Minister zu sein, der das Projekt habe Wirklichkeit werden lassen. Immerhin steht die Akte bereits seit einem Vierteljahrhundert auf der politischen Agenda.

Zweifel auch beim „bekennenden Aktenfan“

So viel Triumph wird dem Minister womöglich nicht zuteilwerden. Die als vierwöchige Turbotestung angelegte Erprobungsphase dürfte aller Voraussicht nach zu kurz ausgelegt sein. So sieht es zum Beispiel Ulrich Kelber, bis Juli dieses Jahres Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI). Der gelernte Diplominformatiker und Professor für Datenethik an der Hochschule Rhein-Sieg-Kreis bezeichnet sich selbst als „bekennenden Fan von Digitalisierung“, der an positive Auswirkungen auch im Gesundheitswesen glaube, wenn die Digitalisierung gut gemacht sei. Mit der ePA werde diese Digitalisierung nun für viele Patientinnen und Patienten nun zum ersten Mal erfahrbar.

Wie die elektronische Patientenakte für alle nun eingeführt werden solle, wecke bei ihm allerdings Vorbehalte, sagte Kelber vergangenes Wochenende beim Kongress der Freien Ärzteschaft in Berlin.

Das digitale Biotop ist nicht komplett

Es fehlten wesentliche Elemente einer allgemeinen digitalen Infrastruktur, in die die ePA eingepasst werden könnte, wie zum Beispiel die elektronische Identität (eID) jedes Menschen in Deutschland. Es mangele darüber hinaus nach wie vor an digitalen Übertragungswegen wie die zwischen Gesundheitsämtern und Robert Koch-Institut. Es fehlten Übereinkünfte zur Interoperabilität und zu Datenformaten. Föderalismus und Selbstverwaltung bildeten häufig zusätzliche Hindernisse bei der Digitalisierung des Staates.

In diese Situation hinein werde nun überhastet die eAkte eingeführt. Mitte November des laufenden Jahres sei das Backend für die Tests der ePA noch nicht funktionsfähig gewesen, berichtete Kelber. Dies sei bemerkenswert für eine Software, die ab Januar an 70 Millionen gesetzlich Versicherte ausgereicht werden solle. Er finde daher den Spruch von der Patientenakte als „tiefgrüne Banane, die in den Arztpraxen reifen soll“ sehr treffend. Außerdem: Ethische Fragen wie der Umgang mit dem Arztgeheimnis seien ungeklärt, ebenso Schutzmechanismen in Forschungsdatenzentren sowie Haftungsfragen.

Plädoyer: Rechtssicherheit vor Tempo

Kelber wies zudem beispielhaft auf informationelle Risiken der Akte für Mitarbeitende in großen Praxen hin. Sie dürften nicht vergessen, zum Beispiel bei Behandlungen bei anderen Ärzten ihrem eigenen Arbeitgeber den Zugriff auf diese Daten in ihrer Akte zu verweigern. Sollten sie sich in der Praxis ihres Arbeitgebers behandeln lassen, seien für den ansonsten alle Daten der Akte für geraume Zeit sichtbar.

Kelber warb dafür, die Sanktionen für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte auszusetzen. Zunächst sollte die Performanz der Akte sichergestellt sein. Dann sollte die ePA voll in die Praxisverwaltungssysteme integriert sein, mit Haftung der PVS-Hersteller. Die Daten in der Akte sollten durchgehend strukturiert sein und keine PDF-Sammlungen. Letztendlich sollte auch die Telematik-Infrastruktur (TI) 2.0 vollständig implementiert sein, damit sich die TI-Versionen nicht vermischten, so Kelber.

Diese Sorgfalt walten zu lassen, sei notwendig, um Rechtssicherheit herzustellen. Dass die Versicherten nun aufgefordert seien, in ein andauerndes niedriges Sicherheitsniveau einwilligen zu müssen, bezeichnete Kelber aus seiner Sicht als rechtswidrig.

Europas Gesundheitsdatenraum im Aufbau

Der Datenexperte warnte davor, durch eine überhastete Einführung der Akte das Vertrauen der Menschen aufs Spiel zu setzen. Die Verantwortlichen sollten sich für die Testphase mindestens ein halbes Jahr Zeit nehmen: drei Monate für die Evaluierung und drei Monate, um die Kinderkrankheiten abzustellen.

Die Akte soll ausdrücklich auch der Wissenschaft dienen. Wer seine Daten spenden will, kann dies tun. Sie fließen dann wie die Abrechnungsdaten der Krankenkassen in das Forschungsdatenzentrum ein.

Es gibt auch Gründe dafür, schnell vorzugehen. Die Akte wird in einer Zeit scharfgeschaltet, in der sich auch der bereits beschlossene Europäische Gesundheitsdatenraum herausbildet. Mit dem Inkrafttreten der europäischen Verordnung dazu wird Ende diesen oder Anfang kommenden Jahres gerechnet.

Gesundheitsdaten: Internationaler Wirtschaftsfaktor

Elf Milliarden Euro könnten die Gesundheitssysteme der Europäischen Gemeinschaft in den kommenden zehn Jahren einsparen, jubelt das Europäische Parlament auf seiner Internetseite. Die Verfügbarkeit von Daten werde die digitale Europäische Gesundheitswirtschaft auf Jahre hinaus um jährlich zehn bis 20 Prozent wachsen lassen. Selbst transatlantischer Gesundheitsdaten-Austausch ist schon im Gespräch. Aufgrund der schieren Bevölkerungszahl werden die Gesundheitsdaten in Deutschland zum größten Honigtopf an Daten in Europa werden: All dies dürften ebenfalls Gründe für die deutsche Gesundheitspolitik sein, bei der Einführung der ePA auf Learning by doing zu setzen.

Nicht nur ehemalige Datenschutzbeauftragte beäugen die digitale Aufholjagd Deutschlands kritisch. Karl Lauterbach hat in diesem Jahr den „Oscar für Datenkraken“ eingeheimst, den Big Brother Award des Projekts „Digitalcourage“.

Kritiker unter den Ärztinnen und Ärzten sehen darin, dass Gesundheitsdaten ihrer Patientinnen und Patienten, wiewohl anonymisiert, genutzt werden sollen, eine Verletzung der Schweigepflicht. Zudem wird auch die Nutzenfrage gestellt?

Gesundheitsdaten heilen nicht

Der ehemalige Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Professor Jürgen Windeler, warnt vor dem „Tanz um das binäre Kalb“und die Anhäufung von „Forschungs-Müll“. Daten an und für sich könnten aber weder Leben retten noch Menschen heilen. Nutzenaussagen zur Wirksamkeit, auch zu der der Akte, ließen sich wissenschaftlich sauber ausschließlich im Vergleich treffen.

Digitalisierung und Big Data seien keine Methoden. Sie lösten auch kein methodisches Problem, so Windeler. Die Akte werde nicht einmal Mehrfachbehandlungen verhindern können, sagte er voraus. Untersuchungen anzustrengen liege im Ermessen von Arzt und Ärztin.

Nutzenbewertung für die ePA? Soviel Zeit bekommt das Verfahren wohl nicht mehr.

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