Drohende Lieferengpässe bei Medikamenten
EU rüstet sich gegen Arzneimittelknappheit
Ein freiwilliger Solidaritätsmechanismus, gemeinsame Beschaffung: Die EU will Medikamentenengpässe in den kommenden Monaten weitgehend verhindern. Abhilfe soll eine Liste unentbehrlicher Arzneien schaffen.
Veröffentlicht:Brüssel. Der Frust steigt, besonders, seit die Temperaturen fallen. Und das liegt weniger an überfüllten Arztpraxen oder nervigen Schnupfnasen, sondern vor allem am bitteren Déjà-vu, das etliche Patienten, Medizinerinnen und Apotheker dieser Tage erleben. Schon wieder fehlen Hustensäfte für Kinder. Aber schon wieder sorgen auch nicht erhältliche Tabletten für Zusatzstress bei psychisch Kranken und wichtige Krebsmedikamente werden knapp.
Auf der Seite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, auf der Lieferengpässe gemeldet werden können, sind zurzeit 505 Mittel wie Amoxicillin oder Insulin aufgelistet – und damit sogar noch mehr als im Frühjahr, als Kinderärzte aus Deutschland, Frankreich, Südtirol, Österreich und der Schweiz in einem Brandbrief davor gewarnt hatten, dass die „Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen durch den Medikamentenmangel europaweit gefährdet“ sei.
Kurz- und langfristige Schritte
Um der Entwicklung gegenzusteuern, stellte die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides am Dienstag ein Maßnahmenpaket zum Kampf gegen die Arzneimittelknappheit in Europa vor. Dabei geht es um Schritte, die sowohl kurz- als auch langfristig helfen sollen. Zu ihnen zählt neben einer gemeinsamen Medikamenten-Beschaffung ein freiwilliger Solidaritätsmechanismus, mit dem man noch im Oktober starten will.
Mit dem Instrument könnten sich die Mitgliedstaaten gegenseitig bei Engpässen aushelfen. Gehen etwa bestimmte Tabletten zur Krebsbehandlung in Dänemark aus, würde das Land seinen Bedarf kundtun. Sollten dann Länder wie Portugal oder Österreich noch über Bestände verfügen, könnten sie das Medikament an den Partner verteilen.
Arzneimittel-Mangel
Pharmaindustrie: Lieferengpassgesetz schafft keine kurzfristige Verbesserung
Außerdem soll auf Wunsch der Brüsseler Behörde bis Ende dieses Jahres eine Liste unentbehrlicher Arzneimittel erstellt werden, Kyriakides sprach von 100 bis 350 Medikamenten, die darauf landen könnten. Für die würde man dann besondere Lösungen ausarbeiten – ob mehr Vorräte anlegen, eine gesteigerte Produktion ankurbeln oder eine größere Zahl von Partnerschaften mit Drittstaaten abschließen.
Probleme können nicht über Nacht gelöst werden
Doch die Griechin schränkte auch ein: „Die Probleme können nicht über Nacht beseitigt werden.“ Als zu vielschichtig beschrieb sie die Ursachen. Der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese befand, es sei „höchste Zeit“, dass die EU-Kommission einschreitet. Er nannte es einen „Skandal, wenn in einem reichen Land wie Deutschland oder auf einem reichen Kontinent wie Europa wichtige Arzneimittel nicht verfügbar sind“.
Abhilfe könnte laut Brüsseler Behörde zudem schaffen, wenn die EU-Länder bestehende Vorschriften flexibler auslegen, also dass zum Beispiel die Haltbarkeitsdauer verlängert oder der Versand von Medikamenten von einem Staat in einen anderen erleichtert wird.
Kritik an „Billigmentalität“
Wenn die Packungsbeilage auf Spanisch anstatt auf Deutsch formuliert ist, sei das laut Liese besser, als wenn das Medikament überhaupt nicht vorhanden wäre. Der Arzt und heutige Politiker forderte darüber hinaus ein Ende der „Billigmentalität“. Europaweit sei bei der Ausschreibung der Krankenkassen beziehungsweise der staatlichen Gesundheitssysteme „praktisch nur auf den Preis geachtet“ worden.
Liese verweist auf Medikamente, bei denen die Tagestherapiekosten bei einem Cent liegen. Für diesen Preis könnten europäische Firmen die Mittel nicht anbieten. Die Folge: Die Herstellung in der Gemeinschaft ist stark von importierten pharmazeutischen Wirkstoffen aus China und Indien abhängig. Das führt nicht nur in Krisenzeiten und bei Grippewellen zu Problemen. Müssen sich die Europäer stärker darum bemühen, im Gesundheits- und Pharmabereich industrielle Autarkie zu erreichen?
Liese zufolge sollten in den EU-Mitgliedstaaten bei allen relevanten Medikamenten die Ausschreibungen so gestaltet werden, „dass nicht nur der Preis, sondern auch die Zuverlässigkeit der Lieferkette und die Produktion in der EU honoriert wird“. (kap)