Unters Messer ja oder nein

Gibt es eine Postleitzahlen-Lotterie?

Die Häufigkeit von Operationen variiert in Deutschland massiv je nach Wohnort. Das deutet auf Qualitätsmängel hin, folgern die Autoren einer Studie der Bertelsmann-Stiftung.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Ärzte im OP.

Ärzte im OP.

© Tobilander / fotolia.com

GÜTERSLOH/BERLIN. Bei der Häufigkeit von Operationen gibt es regional massive Unterschiede, die medizinisch nicht erklärt werden können. Darauf weist die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie hin, die am Freitag veröffentlicht worden ist.

Die Stiftung beobachtet seit 2007 die Häufigkeit von Operationen in allen 402 deutschen Kreisen und kreisfreien Städten.

Verglichen wurden dafür folgende Eingriffe: Kaiserschnitte, Entfernung der Gaumenmandeln, der Gebärmutter, der Prostata, der Gallenblase, Bypass-Operationen, Defibrillator-Operationen und Kniegelenk-Erstimplantationen.

So würden in einzelnen Städten und Landkreisen Nordrhein-Westfalens zweieinhalb Mal mehr Kindern die Gaumenmandeln entfernt als andernorts. Die Landkreise Wesel und Siegen-Wittgenstein verzeichnen bei diesem Eingriff die 2,5-fache Häufigkeit im Vergleich zu den Landkreisen Warendorf oder Gütersloh.

Insgesamt wichen 137 der 402 Städte und Gemeinden um mehr als 30 Prozent vom Bundesdurchschnitt ab. Daraus lasse sich die Vermutung ableiten, dass betroffene Kinder in jeder dritten Stadt oder jedem dritten Kreis entweder über- oder unterversorgt seien.

Ähnlich verhält es sich bei der Entfernung der Prostata: Im Altenburger Land in Thüringen wird bei 13 von 10.000 Männern dieser Eingriff vorgenommen, im Eifelkreis Bitburg-Prüm sind es statistisch 1,7 Operationen.

Weder medizinisch noch durch unterschiedliche Alters- oder Geschlechtsstrukturen ließen sich die Unterschiede erklären. Die Bertelsmann-Stiftung appellierte an Ärztekammern, Fachgesellschaften und Aufsichtsbehörden, die "auffälligen" Regionen genauer zu untersuchen.

Spahn: Qualitätsproblem erkennbar

Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, signalisierte, man werde dem nachgehen: "Offensichtlich gibt es auch bei der Stellung der Indikation ein Qualitätsproblem. Im Sinne der Patienten müssen wir das lösen."

Es helfe schließlich keinem Patienten, wenn er zwar qualitativ sehr gut - aber eben doch völlig unnötig - operiert werde.

Die OECD hat neben Deutschland die Situation in zwölf weiteren Industrienationen untersucht. Die Ergebnisse sollen kommenden Dienstag in Berlin vorgestellt werden.

OECD-Direktor Mark Pearson bezeichnete große regionale Unterschiede in der Operationshäufigkeit als "klares Zeichen für Qualitäts-, Effizienz- und Gerechtigkeitsprobleme." Die Langzeitbeobachtung seit 2007 mache deutlich, dass die Unterschiede bereits seit Jahren bestehen und sich bei einzelnen Eingriffen die Disparitäten sogar vergrößert hätten.

Bei der Frage nach dem Warum liefert die Stiftung nur "erste Erklärungsansätze". So könne das Fehlen klarer medizinischer Leitlinien die Entstehung von regionalen Unterschieden befördern.

Stiftungsvorstand Dr. Brigitte Mohn verlangte, die Einhaltung von Leitlinien müsse "strenger kontrolliert werden".

Der GKV-Spitzenverband dagegen hat die Schuldigen bereits ausgemacht: Überkapazitäten bei Kliniken verführten zu unnötigen Operationen, sagte Spitzenverbands-Sprecher Florian Lanz. Die Studie sei ein "Weckruf" für die Klinikverbände, dass Strukturreformen nötig seien.

Die Deutsche Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie hat unmittelbar nach der Veröffentlichung zu den starken regionalen Unterschieden bei der Häufigkeit von Mandeloperationen Stellung genommen. Darin wird darauf verwiesen, dass "rein wissenschaftlich und medizinisch eine bindende operationalisierte Indikationsstellung für Mandeloperationen nicht erstellt werden" könne.

Da es sich somit um ärztliche Ermessensentscheidungen handele, seien "Variationen nachvollziehbar". Angesichts "eng kalkulierter Budgets" für Mandeloperationen entfielen ökonomische Anreize für diese Operation aber "weitgehend", heißt es in der Stellungnahme.

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Kommentare
Dr. Wolfgang P. Bayerl 15.09.201413:34 Uhr

Kollege Schätzler hat völlig recht! ..... es gab einmal eine Zeit, ....

..... es gab einmal eine Zeit, da galt ärztliche Tätigkeit noch als nützlich und der Bau neuer Krankenhäuser als besonders gesellschaftsdienlich und lobenswert.
1956 konnte noch ein Bestseller über Chirurgie geschrieben werden, heute absolut undenkbar - Das Jahrhundert der Chirurgen, von Jürgen Thorwald -.
Die Wende habe ich selbst miterlebt zunächst medial mit "die Beutelschneider", der Spiegel, 1962, nicht die Pharmaindustrie, die teure Medizintechnik, nein auf einmal nur die Ärzte.
Politisch kam die Wende Ende der 70-ger Jahren (Willi Brand) mit dem ersten Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz 1981 und ab 1996 gab es massiven Stellenabbau des Pflegedienstes (http://www.boeckler.de/pdf_fof/S-2008-116-4-1.pdf)., gefolgt von kontinuierlichem "Bettenabbau" bis heute! Mit der Einführung von "Budgets" (Seehofer) wurde endgültig der Anspruch auf Behandlungsqualität begraben, flankiert von einem immer größer werdenden Heer teurer externer Qalitätsüberwacher und "Zertifizierer", offenbar eine besonders Deutsche Passion.
Dieses erste Kostendämpfungsgesetz war in seiner Benennung wenigstens noch ehrlich!
Besser als Kostendämpfung klingt natürlich "Reform" etc. auch Gesundheit selbst soll ja reformiert werden,
durch Kostendämpfung, oder umgekehrt?

Was steckt dahinter?
Allgemeiner Verlust gesellschaftlicher Solidarität?
Ökonomie?
Nun, verrückt genug sind ja diese selbsternannten Gesundheitsökonomen,
bis hin zum ernst gemeinten Vorschlag, man sollte Rauchen und Saufen fördern,
damit der Mensch bitte rechtzeitig vom Ableben Gebrauch macht BEVOR er Rentner wird.
Im Ernst wer sich da wirklich auskennt (Arzt), weiß,
dass die Kosten der Krankheit (einschl. Arbeitsunfähigkeit natürlich) höher sind,
als die effektive Behandlung (Ärzte).
Die Betonung liegt auf der Effektivität und Ausnahmen bestätigen diese Grundregel.
"Bertelsmann" ist was?
irgend etwas "Internationales".
Frau Clinton hat einmal Deutschland besucht um zu erfahren,
wie wir es hier schaffen eine so hochqualifizierte flächendeckende medizinische Versorgung so preiswert zu organisieren. In USA ist das bekanntlich nicht möglich.
Hier werden auch Ärzte nich so pauschal beschimpft wie in Deutschland.
Das sagen übrigens alle ausländischen Fachleute, "consultants", von denen es in dieser teuren "Industriesparte" so viele gibt, wie Sand am Meer.

Dr. Thomas Georg Schätzler 14.09.201420:53 Uhr

OECD und Bertelsmann-Stiftung in Absurdistan 2.0?

Seit 2009 ist der Brite Mark Pearson OECD-Direktor der "Gesundheits"-Abteilung, welche nach eigenen Angaben in zentralen Arbeitsschwerpunkten auf die Ausrichtung von Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen, einschließlich verstärkter Anstrengungen bei der Prävention von Übergewicht und schädlichem Alkohol-Gebrauch fokussiert ... Vor seiner OECD-Tätigkeit war er Steuer- und Bankexperte ... mit Oxford-Abschlüssen in Politik, Philosophie und Ökonomie bzw. einem "Master of Science" in Ökonomie und Ökonometrie, Birkbeck, Universität London. ["... In 2009 he became Head of the Health Division where the central focus of work has been on how to deliver health care with greater efficiency, including putting much more effort into prevention of obesity and harmful use of alcohol. He gave evidence to the US Senate on ‘Obamacare’, and has been on a panel advising the Chinese government on its health reforms. Prior to joining the OECD, Mr. Pearson worked for the Institute for Fiscal Studies in London, and also as a consultant for the World Bank, the IMF and the European Commission. Mr. Pearson is British, and has a degree in Politics, Philosophy and Economics from Oxford, and an MSc in Economics and Econometrics from Birkbeck, University of London."] Angaben lt. "OECD FORUM - BETTER POLICIES FOR BETTER LIVES": http://www.oecd.org/forum/programme/sessions/healthinnovation/speakers/markpearson.htm
Somit geradezu prädestiniert, um gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung völlig haltlose, unbedarfte und abwegige Schlussfolgerungen über e r k r a n k t e Patienten/-innen mit Kaiserschnitte, Entfernung der Gaumenmandeln, der Gebärmutter, der Prostata, der Gallenblase, Bypass-Operationen, Defibrillator-Operation und Kniegelenk-Erstimplantation zu ziehen. "Große regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung sind ein klares Zeichen für Qualitäts-, Effizienz- und Gerechtigkeitsprobleme" behauptet OECD-Direktor Mark Pearson irrtümlich und liegt damit vollkommen neben der Spur. Denn z. B. die 600.000 Einwohner fassende Großstadt Dortmund hat ein kinderchirurgisches Zentrum, mehrere Abdominal-Chirurgie-Abteilungen, eine HNO-Klinik und Belegabteilungen bzw. allein drei urologische Kliniken.
Wie dabei im großen Dortmunder Umland, von der größten Kinderklinik Deutschlands in Datteln bis zum privaten Universitätsklinikum Herdecke (Nord-Süd), von Erwitte im Sauerland bis an die Stadtgrenze der Universitätsklinik-Stadt Bochum (Ost-West) "Qualitäts-, Effizienz- und Gerechtigkeitsprobleme" entstehen können, bleibt vollkommen unerfindlich. Denn die W a n d e r u n g s b e w e g u n g e n unserer Patientinnen und Patienten werden nicht erfasst.
Oder fordert die absolute Medizin-Bildungsferne von OECD-Direktor Mark Pearson bzw. der Bertelsmann-Stiftung eine mit Dortmund vergleichbare Infrastruktur und Krankenversorgung auch für die direkt angrenzenden Städte Castrop-Rauxel, Waltrop, Lünen, Kamen, Holzwickede, Schwerte, Hagen, Wetter und Witten? Denn wie sollen dort, bitteschön, Bypass-Operationen bzw. Defibrillator-I m p l a n t a t i o n e n (ICD), wie es korrekt heißen muss, a u ß e r h a l b von den beiden Dortmunder Schwerpunktkliniken der Maximalversorgung mit 24-Stunden-Kardiologie-Herzkatheterlabor, Cardio-CT, Cardio-NMR, NMR-Angiografie, Rhythmologie-Labor mit 3-D-Mapping, Anästhesie mit Herz-Lungen-Maschine, Kardiotechnikern, Herz- und Hybrid-OPs, Intensivtherapie (ICU) und „intermediate care“ (IMCU) realisiert werden?
Über die anderen Verfahren wie Sectio caesarea, Hysterektomie, Prostatektomie, Cholezystektomie und Knie-TEP-Erstimplantation will ich aus Platzgründen gar nicht erst polemisieren. Aber im Umgebungsbereich a l l e r Schwerpunktkliniken und medizinischen Maximalversorgungseinrichtungen dieser Welt nimmt der Versorgungsgrad u n a b h ä n g i g von der Bevölkerungsdichte direkt proportional zur Entfernung des individuellen Aufenthaltsortes der (potenziellen) Patienten ab, um bei geog

Dr. Thomas Georg Schätzler 14.09.201412:13 Uhr

Versorgungsfoschungs- und Medizinbildungsferne OECD-Bertelsmann-Studie !

Konkretes Beispiel für die Unbedarftheit der OECD-Bertelsmann-Studie (OECD-BMS)? Bitte sehr:

Im genannten Landkreis (LK) Warendorf mit 272.623 Menschen auf 1.319,41 km² bzw. 207 Einwohnern je km² (31. Dez. 2013) gibt es das St.-Josephs-Hospital in Warendorf, wo s e l t e n e r Tonsillektomien bei Kindern als anderswo durchgeführt werden, weil die HNO-Belegabteilung nur 9 Betten umfasst. In Belegabteilungen arbeiten Facharzt-Kollegen/-innen, die n e b e n ihrer Vollzeit-Praxis-Tätigkeit z u s ä t z l i c h ambulante und stationäre Eingriffe unter dem Dach einer Klinik durchführen.
http://www.gesundheit-muensterland.de/einrichtungen/kliniken/warendorf-josephsH.html
Weitere kleine HNO-Belegabteilung gibt es im St. Franziskus-Hospital in Ahlen,
http://www.sfh-ahlen.de/de/medizinische-kompetenzen/hno.html
und im Marienhospital in Oelde
http://www.marienhospital-oelde.de/kliniken__hno.shtml
o h n e kinderchirurgische Schwerpunkte.

Dies ist selbstverständlich n i c h t wertend gemeint. Dient aber als Beleg, dass viele Eltern ihre Kinder bevorzugt in a n d e r e n HNO-Fachabteilungen mit 24-Stunden-Facharzt-Präsenz der d i r e k t angrenzenden kreisfreien Stadt Münster (Westfalen) mit Universitätsklinik, den Krankenhäusern der Stadt Hamm, dem LK Steinfurt (NRW), LK Osnabrück (NS), LK Soest und LK Coesfeld an den Gaumenmandeln operieren lassen.

Für den LK Gütersloh gilt Entsprechendes. Auch dort übernehmen benachbarte Kreise und kreisfreie Städte die stationäre operative HNO-Versorgung bei Kindern, was bei hohem Motorisierungsgrad und Infrastrukturen auch für ihre Eltern keine größere logistische Herausforderung bedeutet.

Im Eifelkreis Bitburg-Prüm werden deshalb so s e l t e n Prostata-Operationen durchgeführt, weil es im größten und zugleich am d ü n n s t e n besiedelten Landkreis von Rheinland-Pfalz gar n i c h t genügend Männer als potenzielle Patienten gibt. Auf einer Fläche von 1.626,12 km² leben dort nur 95.946 Menschen (31. Dez. 2012), das sind gerade 59 Einwohner je km².

Aber, hochverehrte OECD-und Bertelsmann-"Experten" und hochverehrtes Publikum, sollte dort auch nur ein einziger Patient eine Prostata-Operation benötigen, wird er sich im d i r e k t angrenzenden Luxemburg, im LK Trier-Saarburg oder im belgischen Lüttich erfolgreich und risikoadäquat operieren lassen bzw. sich sogar in seinem regionalen Dialekt verständigen können.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

Dr. Wolfgang P. Bayerl 13.09.201400:29 Uhr

Antwort auf die wichtige Frage der Bertelsmann-Stiftung und die engagierte Frau Dr. Brigitte Mohn

ganz sicher eher zu wenig.

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