Magdeburger Studie

Hitzige Debatte um Krankmeldung entbrannt

Arbeitnehmer melden sich mehrere Tage selbst krank - und entlasten damit Hausärzte. Kann das norwegische Modell wirklich ein Vorbild für Deutschland sein? Darüber scheiden sich die Geister.

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Den gelben Schein verlangen Arbeitgeber meist ab dem dritten Krankheitstag, oft aber auch schon früher.

Den gelben Schein verlangen Arbeitgeber meist ab dem dritten Krankheitstag, oft aber auch schon früher.

© Bernd_Leitner / fotolia.com

NEU-ISENBURG/MAGDEBURG. Dass seine Studie solch eine Debatte auslösen würde, damit hatte Dr. Wolfram Herrmann nicht gerechnet.

"Völlig überrascht" sei das Forscherteam der Universität Magdeburg von den Reaktionen auf ihren Vorschlag zu einer Lockerung der Regelung zur Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach norwegischem Beispiel.

Die Reaktionen aus Politik und Medizin waren dabei höchst unterschiedlich.

Während Arbeitgeberverbände und Regierung ein Erproben des norwegischen Modells, bei dem sich Arbeitnehmer länger eigenständig vom Dienst befreien können, ausschlossen, zeigten sich der Hartmannbund und Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, aufgeschlossen für eine Reform der aktuellen Regelung - mit dem Ziel, Hausärzte zu entlasten.

Erkältung häufiger Grund für Arztbesuche

Soll das System der Krankmeldung in Deutschland reformiert werden?

Mediziner der Universität Magdeburg plädieren dafür, die Regeln zur Krankmeldung in Deutschland zu lockern - und verweisen auf Norwegen, wo sich Arbeitnehmer selbst sieben Tage krankmelden können. Wie sehen Sie als Arzt das: Sollte das System der Krankmeldung hierzulande reformiert werden?

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Ausgang der Studie war die extreme Differenz in der Anzahl der Arztbesuche: 17,1 Besuche absolvieren die Deutschen laut Studienexposé durchschnittlich pro Jahr, in Norwegen seien es gerade einmal fünf.

"Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass Erkältungen in norwegischen Hausarztpraxen fast überhaupt keine Rolle spielen, während sie hierzulande ein häufiger Grund für den Arztbesuch sind", berichtet Herrmann von den Studienergebnissen, die am Mittwoch offiziell vorgestellt werden.

"Aus medizinischer Sicht ist es bei vielen Erkrankungen wie beispielsweise einer Grippe aber sinnvoll, dass die Patienten möglichst frühzeitig zu ihrem Hausarzt gehen", sagte Vincent Jörres, Pressereferent des Deutschen Hausärzteverbands, der "Ärzte Zeitung".

Dies gelte insbesondere für Risikogruppen, also zum Beispiel Menschen, die an chronischen Erkrankungen oder einem schwachen Immunsystem leiden.

Drei Jahre lange hatte Herrmann gemeinsam mit fünf Kollegen Praxisbeobachtungen und Kontextanalysen durchgeführt, außerdem je 20 Patienten in beiden Ländern in qualitativen Interviews befragt.

Hilde Matheis, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, äußerte dabei generelle Zweifel am Studiendesign. "Norwegen ist kein geeignetes Vorbild für Deutschland, weil sich die Bedingungen der Gesundheitsversorgung sehr unterscheiden," sagte sie.

"Die Entfernungen zu medizinischen Einrichtungen, insbesondere im dünner besiedelten Mittel- und Nordnorwegen, sind oftmals erheblich größer als in Deutschland. Dazu kommen noch schwierige Witterungsbedingungen im Winter und die durchschnittlich geringere Anzahl und Qualität der Straßenverbindungen."

Die Möglichkeit, dass sich Beschäftigte selber auch für längere Zeiträume krankschreiben können, sei daher eher der Not geschuldet als ein innovativer Ansatz.

"Große Unterschiede zwischen Deutschland und Norwegen"

"Natürlich gibt es große Unterschiede zwischen Deutschland und Norwegen", räumt auch Herrmann ein, "sowohl kultureller Art, als auch in Bevölkerungs- und Versorgungsdichte."

Andererseits, betont er, bestünden auch Gemeinsamkeiten - etwa die vergleichbare Mortalität und Morbidität.

Die Ergebnisse seien aufgrund der Unterschiede jedoch vorsichtig zu bewerten, deshalb schlugen die Forscher lediglich die Durchführung eines Pilotprojekts, das eine eigenständige Krankschreibung der Arbeitnehmers von bis zu fünf Tagen möglich machen würde, und keinesfalls die endgültige Reform der Krankschreibung in Deutschland vor.

Dabei zeigte sich der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn durchaus aufgeschlossen für eine Reform: "In Deutschland ist die Zahl der durchschnittlichen Arztbesuche auch deswegen so hoch, weil Patienten nur für Rezepte, Verlaufskontrollen oder auch Kurzzeitkrankschreibungen immer zum Arzt müssen", sagte er.

Jeder kluge Vorschlag, das zu reduzieren, solle ergebnisoffen geprüft werden.Aktuell muss der gelbe Zettel spätestens ab dem vierten Tag beim Chef vorliegen.

Eine Regelung, die Bestand haben sollte, wie die deutschen Arbeitgeber meinen: "Die gesetzlichen Regelungen zu Krankschreibungen haben sich in Deutschland insgesamt bewährt", erklärte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).

"Sie führen nicht zu unnötigen Arztbesuchen." Auch die Bundesregierung will die Regeln für Krankschreibungen nicht ändern. Ein Sprecher des zuständigen Arbeitsministeriums sagte, man halte die Regelung so, "wie sie ist, für angezeigt, sinnvoll und nützlich".

"Es hat schon seinen Sinn, dass zur Abklärung von gesundheitlichen Beschwerden zügig der medizinische Sachverstand zum Zuge kommt", erklärte auch Dr. Klaus Holst, Leiter der vdek-Landesvertretung Sachsen-Anhalt.

Gefahr, ernsthafte Krankheiten zu übersehen

Es sind Bedenken, die auch Matheis teilt: "Die große Gefahr der Selbstkrankschreibung für die Patienten liegt darin, dass sich hinter scheinbaren Bagatellbeschwerden auch ernsthafte Krankheiten verbergen, die dann unter Umständen später erkannt und behandelt werden könnten."

Neben der medizinischen Notwendigkeit einer frühzeitigen Abklärung und damit zielgerichteten Therapie der Patienten bleibt laut vdek auch die Frage einer finanziellen Absicherung entsprechender Fehltage im Arbeitsprozess von Arbeitnehmern.

Die Berechtigung von Fehlzeiten, für die der Arbeitgeber oder die gesetzliche Krankenversicherung finanziell aufkommen, sollte ein Arzt grundsätzlich feststellen und bestätigen.

"Um die hohe Anzahl an Arztbesuchen in Deutschland nachhaltig zu senken, ist es vielmehr entscheidend, dass die Behandlungsprozesse strukturiert ablaufen", so Jörres.

"Wenn der Hausarzt als Koordinator im Mittelpunkt der Versorgung steht, können Doppeluntersuchungen und unnötige Facharztbesuche vermieden werden. Nur so kann es gelingen, die begrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen effektiv und zum Wohle der Patienten einzusetzen."

Hier könne dann womöglich doch der Blick nach Skandinavien helfen, meint Herrmann. "Auch die Versorgung chronisch Kranker ist in Norwegen völlig anders als in Deutschland", gibt der Mediziner bereits vor dem offiziellen Abschlusssymposium am Mittwoch einen Ausblick auf die Ergebnisse: "Hausärzte spielen eine viel größere Rolle." (jk)

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Ein abwegiger Vergleich

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Kommentare
Dr. Florian Baier 18.02.201521:31 Uhr

ausgezeichnete Idee !

so könnten wir Hausärzte endlich die unglaublich lästigen und medizinisch völlig sinnlosen Grippekrankschreibungs-Sprechstunden loswerden.
Dafür hätten wir dann mehr Zeit für unsere eigentliche Arbeit wie Multimorbide, Pflegeheim, Hausbesuche usw...
Allerdings müßte dann vorher das ebenfalls völlig sinnlose Abrechnungsprinzip der "Verdünnerscheine" beendet werden.
Leider traue ich im Moment niemand zu diesen Quantensprung durchzusetzen.
Man wird das sicher in 10 Jahren nochmal diskutieren,wenn es kaum noch Allgemeinärzte gibt und man händeringend irgendeine Lösung braucht.

Dr. Klaus Günterberg 18.02.201513:00 Uhr

In Zeiten zunehmenden Ärztemangels überfällig!

Ja, in Zeiten zunehmenden Ärztemangels sollte man Ärzte entlasten, sollte man auch die Regelungen zur Krankmeldung und Krankschreibung bei Bagatell-Erkrankungen prüfen. Da sind Änderungen m. E. überfällig! Was halten Sie von folgenden Änderungen?

¦ Bei absehbar kurzfristiger Erkrankung kann sich der Arbeitnehmer für maximal 3 Werktage auch selbst krank melden, ohne dass es dazu einer ärztlichen Bescheinigung bedarf, begrenzt auf 3 Krankheitsfälle und insgesamt höchstens 6 Werktage pro Jahr.
¦ Bei jeder Erkrankung bis zu 6 Wochen wird für die ersten drei Krankheitstage keine Lohnfortzahlung gezahlt. Bei einer darüber hinaus andauernden Krankheit erhält der Arbeitnehmer auch für diese ersten drei Tage die volle Lohnfortzahlung.
¦ Fordert ein Arbeitgeber für eine Arbeitsunfähigkeit bis zu 3 Tagen eine ärztliche Bescheinigung, so ist dies keine Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung mehr, es hat der Arbeitgeber dafür die Kosten zu tragen.

Dr. Klaus Günterberg
Gynäkologe. Berlin

Dr. Thomas Georg Schätzler 18.02.201512:07 Uhr

Warum die Norweger keine "Eulen nach Athen" tragen?

"Magdeburger Wissenschaftler präsentieren ihre Ergebnisse einer deutsch-norwegischen Vergleichsstudie zur Inanspruchnahme hausärztlicher Leistungen ...Abschlusssymposium 18.02.2015", heißt es aus der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (UVGUM). Zu einem Vergleich gehört aber auch Vergleichbarkeit in struktureller, epidemiologischer und versorgungstechnischer Hinsicht.

Die Fragestellung, wie lange jemand sich o h n e ärztliches Attest krankmelden kann, gehört meines Erachtens nicht "zur Inanspruchnahme hausärztlicher Leistungen", sondern ist durch Verfahren und Vorschriften im Sozialrecht geregelt. Da Norwegen ein extrem dünn besiedeltes Land der langen Wege, eines hohen Bruttoinlandsproduktes (BIP) und einer Vollbeschäftigung ist bzw. zugleich reichlich über Rohstoffe (Ölindustrie) verfügt, kann man sich dort im G e g e n s a t z zu Deutschland einen lockeren Umgang mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) leisten.

Die Studienautoren aus der OVGUM/D und der Universität Bergen/Nord-Norwegen berichten: "Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass Erkältungen in norwegischen Hausarztpraxen fast überhaupt keine Rolle spielen, während sie hierzulande ein häufiger Grund für den Arztbesuch sind". Dabei muss berücksichtigt werden, dass Norwegen eine Fläche von 385.199 km² bei einer Einwohnerzahl von gut f ü n f Millionen Menschen (5.156.451 Einw. - Stand 1.10.2014) hat. Deutschland dagegen beherbergt auf einer etwa zehn Prozent k l e i n e r e n Fläche von 357.340 km² eine Einwohnerzahl von gut a c h t z i g Millionen Menschen (80.767.000 Einw. - Stand 31.12.2013). Das ist bei kleinerer Siedlungsfläche sechzehn Mal so viel!

Sich wegen einer Erkältung in Norwegens Wintermonaten dies- und jenseits des Polarkreises auf den langen und beschwerlichen Weg zum nächsten Arzt machen zu wollen, hieße tatsächlich, "Eulen nach Athen tragen". Da kann man sich besser mit Hausmitteln behelfen, die Nachbarn fragen oder in der örtlichen Sanitätsstation nichtärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.

Die für haus-, fach- und spezialärztliche Versorgungsforschung essenzielle Bevölkerungsdichte beträgt in Deutschland 226 Einwohner pro km². Dagegen liegt die norwegische Bevölkerungsdichte mit nur bei 13 Einwohnern pro km² um den Faktor 17,4 n i e d r i g e r. Formale und inhaltliche Versorgungsdefizite, sozialmedizinische Verhaltens- und Anpassungsvorgänge, längere Wege, Versorgungsdisparitäten bzw. veränderte Bewältigungsstrategien („Coping“) sind die Folge.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

Dr. Richard Barabasch 18.02.201509:30 Uhr

Kein Kommentar !

Hier plappern Theoretiker über das Mäusemelken ! Alles nur nach dem Motto "Müsste-sollte-könnte-dürfte-wäre-wenn". Wenn "die Moral" von Deutschen (Arbeitnehmern) als Krankenkassenpflichtversicherte jener gleicht, wie sie in Norwegens arg differenter Krankenversorgungsrealität der dortigen Patienten entspricht, dann mag solches Vorhaben einmal erörtert werden - zur Zeit hic et hoc aber . . . sind das nur universitäre und sogar noch schlecht gemachte "Studien" - die im medialen Unverstand der Gegebenheiten hier und dort zur - prinzipiell untauglichen - Schlagzeile hochgehievt werden,
meint
R.B.

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