Niedersachsen
Kein Tariflohn? Keine ambulante Pflege!
Mehr als zwei Drittel der Pflegedienste in Niedersachsen schreiben rote Zahlen. Sie drohen, die ambulante Pflege aufzugeben.
Veröffentlicht:HANNOVER. Diakonie und AWO in Niedersachsen drohen, sich aus der ambulanten Pflege zurückzuziehen, weil die Pflegekassen die Arbeit der Dienste nicht kostendeckend vergüten. Beide haben sich zur Tarifbindung verpflichtet. Vor einem Rückzug der Dienste der beiden Träger wären landesweit 16.000 Pflegebedürftige und 5000 Pflegekräfte betroffen.
„Das ist keine Verhandlungstaktik. Es ist uns ernst. Viele unserer Pflegedienste können einfach nicht mehr“, sagt Refat Fersahoglu-Weber der „Ärzte Zeitung“, Vorsitzender des AWO-Arbeitgeberverbands. Vor allem die Wegegelder für die Anfahrten zu den Pflegepatienten seien zu knapp bemessen. Fersahoglu-Webers Forderung: „Die Politik muss Druck auf den Kessel machen!“
Drei von vier Diensten im Minus
72 Prozent von 87 repräsentativen ambulanten Diensten in der ACDK-Gruppe (AWO, Caritas, Diakonie, kommunale Anbieter) schrieben 2016 laut einer Umfrage der Träger in Niedersachsen rote Zahlen. Dabei fordert das Pflegepersonalstärkungsgesetz, dass Kranken- und Pflegekassen Tariflöhne als wirtschaftlich angemessen akzeptieren müssen.
Darüber hinaus pocht das Gesetz auf auskömmlich Wegepauschalen. Das betont Rüdiger Becker, Vorstandsvorsitzender vom Diakonischen Dienstgeberverband Niedersachsen (DDN). „Aber die Kassen tricksen bei den Wegepauschalen.“ Sie setzen drei Minuten durchschnittlicher Anfahrt an, tatsächlich aber seien die Pflegenden sechs Minuten zu ihren Patienten unterwegs, das haben die Träger errechnet.
Ein neu entwickeltes Kalkulationsschema, das die Arbeitgeberverbände der AWO (AGV) und der Diakonie (DDN) entwickelt haben, zeigt die Ist-Kosten der Versorgung, zum Beispiel der Anfahrten. Fersahoglu-Webers: „Wenn man die Tarife ordentlich bezahlt und die Wegezeiten als Arbeitszeiten wertet, reicht das Geld vorn und hinten nicht.“
Aktuell bieten die Kassen für 2018 genau 2,61 Prozent mehr Geld. Das entspreche der Grundlohnsummensteigerung, also dem prozentualen Plus des kompletten beitragspflichtigen Arbeitslohnes insgesamt. Davon können die Dienste nach eigenen Angaben keine Tariflöhne zahlen. „Wir fordern deshalb 3,9 Prozent mehr und eine Erhöhung der Wegepauschalen um 36 Prozent“, so Fersahoglu-Weber. Derzeit erhalten die Dienste eine Wegepauschale von 3,18 Euro bis 4,00 Euro für einen Hausbesuch in der Zeit zwischen 6 und 20 Uhr.
vdek weist Kritik scharf zurück
Der niedersächsische Ersatzkassenverband kritisierte in einer Stellungnahme, es sei kein Zufall, dass die Rückzugsdrohung direkt vor dem Schiedsamt erhoben werde. „AWO und Diakonie müssen sich fragen lassen, ob es ihrem Selbstverständnis entspricht, mit den Ängsten der Menschen zu spielen, um eigene finanzielle Interessen durchzusetzen“, so der vdek. Im Übrigen seien die Tarifverhandlungen in den jährlichen Verhandlungen berücksichtigt worden.
„Die Kassen verhandeln die Preise in der Altenpflege nicht in eigenem finanziellen Interesse, sondern unmittelbar für die betroffenen Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen“. Jede Preiserhöhung führe dazu, dass Pflegebedürftige weniger Pflege in Anspruch nehmen können oder aber sie oder ihre Angehörigen mehr dazu zahlen müssen, so der Ersatzkassenverband.
In einem ersten Musterschiedsstellenverfahren soll am Donnerstag über die Forderung der Anbieter anhand von zwei Betrieben verhandelt werden. „Die Entscheidung des Schiedsamts nach dem zweiten Termin im April wird für alle Dienste wegweisend sein“, sagt Fersahoglu-Weber. Für die Zukunft müsse es eine deutliche Ansage der Politik an die Pflegekassen geben, so der Chef des AWO-Arbeitgeberverbands. „Wir reden in der Konzertierten Aktion Pflege über einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag, und den ambulanten Bereich lassen wir ausbluten. Das kann doch nicht wahr sein!“
Unterdessen reagierte Niedersachsens Sozialministern, Dr. Carola Reimann (SPD): „Ich appelliere an die Kassen, dass sie ihrer Verantwortung für eine gute pflegerische Versorgung und Infrastruktur in Niedersachsen gerecht werden und endlich Tariflöhne refinanzieren“, so Reimann. „Auch die zum Teil langen Anfahrtswege auf dem Land müssten endlich angemessen bezahlt werden“, so Reimann.
Fersahoglu-Weber fordert aber auch die Bundesebene. „Deutliche Ansagen sind hier im Rahmen der Selbstverwaltung zwar schwierig, aber auf der Bundesebene liegt die Aufsicht für den Ersatzkassenverband. Ich weiß nicht, wie lange Herr Spahn da noch weggucken kann.“