Lebensqualität

"Messen, was wichtig ist"

Daten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität sind bislang eine Randgröße in Verfahren der frühen Nutzenbewertung. Die Werkzeuge zur Messung von Lebensqualität sind valide, doch es fehlt eine Standardisierung, klagen Experten.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Teilnehmer des Redaktionsgesprächs: Privatdozent Dr. Bernhard Kulzer vom Diabetes-Zentrum Bad Mergentheim, Professor Dr. Matthias Rose von der Charité, Dr. Johannes Clouth und Dr. Thomas Zimmermann von Lilly (v.l.n.r.).

Teilnehmer des Redaktionsgesprächs: Privatdozent Dr. Bernhard Kulzer vom Diabetes-Zentrum Bad Mergentheim, Professor Dr. Matthias Rose von der Charité, Dr. Johannes Clouth und Dr. Thomas Zimmermann von Lilly (v.l.n.r.).

© Michaela Illian

NEU-ISENBURG. Vier Jahre nach dem Start der frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel ziehen Wissenschaftler ein ernüchterndes Fazit: gesundheitsbezogene Lebensqualität hat sich bislang kaum als Wettbewerbsvorteil im Bewertungsverfahren etabliert.

Nur in wenigen Ausnahmefällen hat der Aspekt der Lebensqualität eine Rolle bei der Zuerkennung eines Zusatznutzens gespielt.

Ganz besonders traf dies Hersteller neuer Antidiabetika. Für nahezu alle neuen Substanzklassen lautete das Bewertungsurteil: kein Zusatznutzen.

"Diskussion findet bisher kaum statt"

Warum es bisher nicht gelingt, Daten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität in klinischen Studien über neue Antidiabetika fruchtbar zu machen, hat die "Ärzte Zeitung" in einem Redaktionsgespräch mit Experten erörtert.

Eine Diskussion über gesundheitsbezogene Lebensqualität "findet bislang im deutschen Gesundheitswesen kaum statt - sie wird vielmehr vorverlagert in methodische Debatten", sagt Dr. Thomas Zimmermann vom forschenden Pharmahersteller Lilly. Er kritisiert dies als eine Verkürzung der Debatte.

Dabei seien die gängigen Werkzeuge zur Messung der allgemeinen Lebensqualität gut evaluiert und würden die Lebensqualität relativ stabil und valide messen, sagt Dr. Bernhard Kulzer vom Diabetes-Zentrum Bad Mergentheim.

Allerdings sei die Messung der allgemeinen Lebensqualität für spezifische Fragen in der Diabetologie zu grob - nötig seien hier krankheitsspezifische Messinstrumente.

"Lebensqualität ist das wichtigste Therapieziel für den Patienten. Und wichtige Therapieziele sollte man messen", sagt Kulzer. Unterstützung erhält er von Professor Dr. Matthias Rose, Leiter der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik an der Charité in Berlin.

Der immer größer werdende Teil der Patienten mit chronischen Erkrankungen könne nicht geheilt werden, "wir leisten allenfalls eine Anpassung an die jeweiligen Lebensumstände.

Nicht zu messen, wie gut uns das gelingt - und das mit dem Argument, die Messung sei zu komplex - das geht nicht", sagt er.

Deutschland hat führende Rolle

Deutschland sei bei der Berücksichtigung psychischer Faktoren in der Behandlung von Patienten mit Diabetes "international seit langem führend", betont der Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Rose zeigt sich zuversichtlich, dass es gelingen kann, "Instrumente zur Messung der Lebensqualität auf einen Standard zu heben, der in der Nähe der Validität biologischer Parameter liegt". Doch der Weg dorthin ist bisher steinig.

Dr. Johannes Clouth vom Unternehmen Lilly schätzt, dass es inzwischen "mehr als 800 verschiedene Instrumente für die Messung der Lebensqualität gibt - Tendenz steigend". Was fehle, sei eine Standardisierung der Skalenentwicklung und -erfassung.

Studien zur Lebensqualitäts-Forschung seien oft nur schwer vergleichbar, weil unterschiedliche Messinstrumente eingesetzt werden, bestätigt der Diabetes-Experte Kulzer. Das sei hinderlich, wenn Ergebnisse der Studien in Metaanalysen oder systematischen Reviews zusammengefasst werden sollen.

Aus Sicht von Rose ist keine instrumentenbasierte, sondern eine kon- struktbasierte Messung von Lebensqualität angezeigt. "Und auf die muss man sich einigen", fordert er.

Erschwerend kommt hinzu: Im Vergleich etwa zum HbA1c-Wert ist die Messung von Lebensqualität keine statische Variable, sondern das Ergebnis eines subjektiven Bewertungsprozesses, der sich verändern kann.

Deutlich reduzierte Lebensqualität

Man wisse aus Kohortenstudien, dass die Lebensqualität bei Patienten mit Diabetes im Vergleich zu Gesunden deutlich reduziert ist, erläutert Kulzer. Allerdings liege in vielen klinischen Interventionsstudien zu Diabetes die Lebensqualität nur knapp unter dem Durchschnitt oder ist gar nicht reduziert.

Durch die vom IQWiG geforderten randomisierten Studien bestehe die Gefahr, dass besonders die belasteten Patienten nicht in den Studien repräsentiert werden, "was Schlussfolgerungen der Ergebnisse im Hinblick auf die reale Versorgungsebene erschwert", sagt der leitende Psychologe des Diabetes-Zentrums Mergentheim.

Bislang sei das IQWiG mit Studien konfrontiert gewesen, die schon vor Jahren konzipiert worden sind. Seinerzeit war nicht gefordert, Lebensqualität als wichtigen "Patient reported outcome" zu messen.

Entsprechend sei der Schluss, dass es keine Vorteile einer Intervention im Hinblick auf die Lebensqualität gibt, oft alleine durch die fehlende Datenlage begründet gewesen, erläutert Kulzer und ergänzt: "Eigentlich hätte es oft heißen müssen: Wir wissen es nicht, da aussagekräftige Daten fehlen."

Akzeptanz beim IQWiG ist ungewiss

Es gebe sehr wohl standardisierte Messinstrumente, die spezifische Unterschiede etwa zwischen verschiedenen Insulinen im Hinblick auf die subjektive Bewertung einzelner Dimensionen von Lebensqualität erfassen, berichtet Kulzer - etwa Schmerzen beim Spritzen, die Schlafqualität im Zusammenhang mit Unterzuckerungen oder die Einfachheit des Therapieregimes.

Damit würden jedoch nur Teilbereiche der krankheitsbezogenen Lebensqualität abgefragt. "Und ob das IQWiG diese Messinstrumente akzeptiert, ist unklar", sagt er.

Die Aufgabe, Messinstrumente so zu konstruieren, dass sie nützliche Informationen für die Behandlung liefern, sei vor allem deshalb komplex, weil neben dem gesundheitlichen Status viele weitere Faktoren auf die Lebensqualität einwirken, erläutert Rose.

"Befund und Befinden sind nur lose assoziiert, da die subjektive Bewertung und Akzeptanzfähigkeit der gleichen somatischen Dysfunktion zwischen einzelnen Patienten erheblich variiert", so Rose.

Er plädiert dafür, dass bei der Weiterentwicklung von Messinstrumenten Industrie und Wissenschaftler kooperieren. "Aber aus meiner Sicht sollten Wissenschaftler dabei den Hut aufhaben."

Praktische Probleme bremsen unterdessen die Erhebung versorgungsrelevanter Daten in Deutschland, sagt Kulzer. Die Praxisverwaltungssoftware niedergelassener Ärzte sei vor allem für die Abrechnung programmiert, nicht aber für das Qualitätsmanagement.

Weil Schnittstellen fehlen, sei es schwierig, das Wohlbefinden von Diabetes-Patienten routinemäßig zu erfassen - etwa mit dem WHO-5-Fragebogen.

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