Studie

Mindestmengen können Frühchen das Leben retten

Würde die Mindestmenge für die Versorgung von sehr frühgeborenen Kindern von derzeit 14 auf 50 bis 60 hochgesetzt werden, könnten bis zu 40 Todesfälle pro Jahr vermieden werden, besagt eine Studie.

Christiane BadenbergVon Christiane Badenberg Veröffentlicht:
Frühgeborenes Baby: Eine Studie zeigt, höhere Mindestmengen in Perinatalzentren der Maximalversorgung könnten wohl einige Leben retten.

Frühgeborenes Baby: Eine Studie zeigt, höhere Mindestmengen in Perinatalzentren der Maximalversorgung könnten wohl einige Leben retten.

© Jason / stock.adobe.com

Köln. Extrem kleine Frühgeborene haben offenbar deutlich bessere Überlebenschancen, wenn sie in einem Perinatalzentrum zur Welt kommen, dass jährlich mindestens 50 bis 60 dieser Kinder versorgt. Darauf lassen Ergebnisse einer groß angelegten Studie schließen, die in der Fachzeitschrift „Geburtshilfe und Neonatologie“ erscheint (Heller G et al. (2020): Z Geburtsh Neonatol 2020; 224: 1–8. DOI: 10.1055/a-1259-2689). Allerdings erreicht in Deutschland nur jedes vierte Level-I-Perinatalzentrum diese Zahlen. Die Studienautoren empfehlen deshalb nach Angaben des Science Media Centers (SMC), die Mindestmenge für Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm schrittweise anzuheben.

Eine Mindestmenge von 50 bis 60 Frühgeborenen je Perinatalzentrum der maximalen Versorgungsstufe würde laut SMC bedeuten, dass die Anzahl der entsprechenden Zentren in Deutschland von derzeit 163 auf circa 40 sinken würde. Dadurch ließen sich nach Auffassung der Studienautoren 25 bis 40 Todesfälle pro Jahr vermeiden, heißt es.

Kliniken mit Klagen gegen Mindestmengen erfolgreich

Für extrem unreife Frühgeborene gilt seit 2010 eine Mindestmenge von 14 Fällen pro Jahr und Klinik. Als der Gemeinsame Bundesausschuss ebenfalls 2010 die Mindestmenge auf 30 hochsetzte, haben mehrere Kliniken dagegen vor dem Bundessozialgericht geklagt – mit Erfolg. Die Richter waren der Auffassung, dass es keine ausreichenden wissenschaftliche Grundlage für eine solche Erhöhung gebe.

Das könnte sich nun ändern, denn die Studienautoren haben die Behandlungsergebnisse aller Frühgeborenen aus sämtlichen deutschen Perinatalzentren von 2010 bis 2018 untersucht. So wollten sie die optimale Mindestmenge herausfiltern.

Studie baut Handlungsdruck auf

„Die Analyse beruht auf den tatsächlich gemeldeten Ergebnisdaten aller deutscher Perinatalzentren und ist damit für Deutschland hochgradig repräsentativ“, kommentiert der Leiter der Abteilung für Neonatologie am Uniklinikum Leipzig, Professor Ulrich Thome, die Studienergebnisse. Glücklicherweise sei die Zahl der berechneten vermeidbaren Todesfälle relativ niedrig, für einen Handlungsdruck reichten sie aber aus.

Die Todesfälle seien zudem nur die Spitze des Eisbergs. Denn dem Sterben gingen meist konkrete Gesundheitsschäden voraus und es gebe natürlich immer Kinder, die Gesundheitsschäden haben, aber mit ihnen überlebten. Es sei anzunehmen – und durch einige ausländische Gesundheitssysteme auch belegt – dass dort, wo das Sterberisiko erhöht sei, auch die Gefahr Dauerschäden oder Behinderungen zu erleiden, steige. Demnach wäre auch ein Teil der Behinderungen, mit denen manche Kinder zu kämpfen hätten, vermeidbar, wenn alle sehr kleinen Frühgeborenen in Perinatalzentren mit mindestens 50 bis 60 solcher Patienten pro Jahr zur Welt kämen.

Anhebung nur schrittweise möglich

Thome spricht sich für eine schrittweise Anhebung der Mindestmenge aus, „da die Kapazitäten der verbleibenden Perinatalzentren teilweise angehoben werden müssten, um die Gesamtzahl der Patienten zu bewältigen“.

Statt die in Deutschland sehr große Zahl kleiner und ineffizienter Perinatalzentren zu erhalten, sei es sinnvoll, das Geld lieber für flankierende Maßnahmen für Familien auszugeben, deren Kind in einem weiter entfernteren Krankenhaus liege. Thome denkt dabei an von den Krankenkassen finanzierte Unterbringungsmöglichkeiten oder die Finanzierung von Haushaltshilfen, zur Betreuung von Geschwisterkindern.

Effekt eigentlich noch ausgeprägter

Eigentlich sei der Behandlungsvorteil in einem hochspezialisierten Zentrum noch ausgeprägter, als es die analysierten Daten nahelegten, sagt Professor Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie an der Berliner Charité. Denn die Daten seien fall- und nicht personenbasiert analysiert worden. Bei jeder Verlegung von einem Krankenhaus in ein anderes entstehe in den Daten ein neuer Fall. Die Fälle würden aber nicht zusammengeführt. Wenn also ein Kind sterbe, werde der Todesfall der Klinik zugerechnet, die das Kind zuletzt behandelt habe – „auch wenn oft die Ursache des Todes in Umständen zu suchen ist, die im vorher behandelnden Krankenhaus aufgetreten sind“, sagt Bührer. Gerade bei Komplikationen würden aber Frühgeborene aus Kliniken mit geringerer Fallzahl in spezialisierte Zentren verlegt und stürben möglicherweise dort. „Bei einer personenbasierten Betrachtung wäre der errechnete Behandlungsvorteil in großen Zentren vermutlich ausgeprägter gewesen, ohne dass sich etwas an der Grundaussage geändert hätte“, so Bührer.

Halbierung der Zentren wäre schon ein großer Schritt

Bührer kann sich wie Thome nur eine schrittweise Anhebung der Mindestmenge vorstellen, weil auch die Personalkapazitäten in die größeren Kliniken mitwandern müssten, sagt er.

Eine drastische Reduzierung der Level-I-Perinatalzentren auf ein Viertel des jetzigen Bestandes hält Bührer schon aus politischen Gründen für nicht schnell und auch nicht überall umsetzbar. „Aber wenn es gelänge, ihre Anzahl zu halbieren, wäre das ein großer Schritt nach vorn“, sagt der Neonatologe. In Schweden sei die Behandlung sehr unreifer Frühgeborener auf acht Kliniken konzentriert worden, berichtet Bührer, und die Sterblichkeit sei dort geringer als in Deutschland.

Diese Umstrukturierung sei dort gelungen, obwohl die Bevölkerungsdichte Schwedens nur zehn Prozent der deutschen betrage und die Fläche die Deutschlands um 25 Prozent übersteige. „Hätten wir schwedische Verhältnisse, wäre die Anzahl der Perinatalzentren der maximalen Versorgungsstufe in Deutschland vergleichbar mit der Anzahl der Ikea-Einrichtungshäuser“, so Bührer.

Kaum zu verstehen sei auch, dass die meisten Frühgeborenen deutlich mehr wiegen würden als 1250 Gramm und so in einem Level-II-Perinatalzentrum behandelt werden könnten. Zur Zeit gebe es in Deutschland aber mehr als dreimal so viele Level-I-Perinatalzentren (Maximalversorgung) wie Level-II-Zentren (Schwerpunktversorgung). „Das Verhältnis sollte aber genau andersherum sein“, kritisiert er.

Wege dürfen nicht zu lang werden

Auch für den Gesundheitsökonomen Professor Reinhard Busse zeigt die Studie, dass eine Anhebung der Mindestmenge die Sterblichkeit der Frühgeborenen weiter senken könnte. Aus der Studie gehe hervor, „dass schon bei einer Mindestmenge von circa 25 ein halb so großer Effekt wie bei einer Mindestmenge von 50 bis 60 zu erreichen wäre“, so Busse. Er würde die Halbierung der Anzahl der Perinatalzentren für einen guten Kompromiss halten. Denn derzeit versorge jedes der 163 Perinatalzentren der maximalen Versorgungsstufe durchschnittlich eine Fläche von 2200 Quadratkilometern. Das entspreche einem Radius von 47 Kilometern. Eine Reduzierung auf ein Viertel würde den maximalen Anfahrtsweg auf 93 Kilometer verdoppeln. Eine Halbierung den Radius dagegen nur auf 66 Kilometer vergrößern. „Ein sicherlich guter Kompromiss zwischen Qualität und Erreichbarkeit“, meint Busse.
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Praxisabgabe mit Hindernissen

Warum Kollege Gieseking nicht zum Ruhestand kommt

Wochenkolumne aus Berlin

Die Glaskuppel zum Wahlkampf: Auf dem Markt der politischen Angebote

Das könnte Sie auch interessieren
Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

© Janssen-Cilag GmbH

Video

Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Höhen- oder Sturzflug?

© oatawa / stock.adobe.com

Zukunft Gesundheitswesen

Höhen- oder Sturzflug?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

© MQ-Illustrations / stock.adobe.com

Digitalisierung

Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Pflanzenzweige in Reagenzgläsern

© chokniti | Adobe Stock

PMS? Phytotherapie!

Evidenzbasierte Phytotherapie in der Frauenheilkunde

Anzeige | Bionorica SE
Packshot Agnucaston

© Bionorica SE

PMS? Phytotherapie!

Wirkmechanismus von Agnucaston® 20 mg

Anzeige | Bionorica SE
Mönchspfeffer Pflanze

© Lemacpro / AdobeStock

Phytotherapie bei PMS

Wissenschaftliche Kurzinformation zu Agnucaston® 20 mg

Anzeige | Bionorica SE
Kommentare
Andreas Trotter 21.10.202015:09 Uhr

Die Arbeit von Heller et al liefert einen Hinweis für eine "optimale Fallzahl" von 50-60 FG < 1250g, beruht aber auf einigen Schätzungen und Hochrechnungen, also nicht durchgängig auf belastbaren Daten. Die Autoren bleiben auch eine Erklärung schuldig, warum es zu einem deutlichem Abfall der vermeidbaren Todesfälle bei einer angen. Mindestmengen von 30-35 kommt, eine durchgängiger Volume-Outcome-Zusammenhang besteht damit nicht. Der Rückgang vermeidbarer Todesfälle bei angenommenen Mindestmengen über 60 (Abb. 2 ) wirft die Frage einer Folgenabschätzung auf. Die Einführung einer Mindestmengen von 50 und damit die Konzentration auf nur noch 40% der bestehenden Perinatalzentren Level 1 muss ja zwangsläufig dazu führen, dass die Fallzahl in den verbleibenden Zentren in den Bereich fällt, in dem es zu einem deutlichen Rückgang vermeidbarer Todesfälle kommt. Die vorgeschlagene Zentralisierung würde also am Ende nicht das Outcome verbessern. Das Argument einer nicht vollständigen Risikoadjustierung für den Rückgang jenseits einer Mindestmenge von 60 Frühgeborene ist fadenscheinig und kann nicht belegt werden. Die dazu zitierte Arbeit von Hentschel stammt aus 2018, beschreibt aber ein Kollektiv aus dem Zeitraum 2003-2008, also beginnend vor der ersten QFR-RL in 2005.
Zwar zitieren die Autoren die Arbeit von Rochow (12) aus 2016, gehen aber nicht näher darauf ein, dass ein qualitätsbasierter Ansatz zielführender sein könnte.
Zum Schluss noch die ernüchternde Erkenntnis, dass insgesamt die Fallzahl von Level I FG von 39.050 (2010-2014) auf 46.240 (2014-2018, Tab 1) zugenommen hat. Bei einer in der Tabelle angegeben Sterblichkeit von 4,6% (2.114/46.240) würde die Verhinderung von rund 7000 Frühgeborenen in den letzen 5 Jahren Jahren 322 vermeidbare Todesfälle bedeutet. Die Notwendigkeit, Vermeidung von Frühgeburten zu einem Qualitätskriterium zu machen, wird durch die Ergebnisse unterstützt, ist aber bislang nicht Bestandteil der QFR-RL.

Prof. Dr. A. Trotter
Präsident des Verbands Leitender Kinderärzte u. Kinderchirugen

Sonderberichte zum Thema
Abb. 1: Prozentualer Anteil der Patientinnen und Patienten pro Gruppe mit den genannten Symptomen zum Zeitpunkt der Visite 1 (Erstvorstellung) und Visite 2 (24–72h nach Erstvorstellung).

© Springer Medizin Verlag GmbH, modifiziert nach [13]

Akute Otitis media – Behandlungsoptionen in der Praxis

Leitlinienbasierte Therapie für schnelle Symptomverbesserung

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Homöopathisches Laboratorium Alexander Pflüger GmbH & Co. KG, Rheda-Wiedenbrück
Den Herausforderungen mit Hopfenextrakt begegnen

© Pixelrohkost / stock.adobe.com

Arztinformation – Hilfe für Patientinnen in den Wechseljahren

Den Herausforderungen mit Hopfenextrakt begegnen

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Procter & Gamble Health Germany GmbH, Schwalbach am Taunus
Abb. 1: Wichtige Signalwege und Angriffspunkte für eine zielgerichtete Therapie beim Mammakarzinom

© Springer Medizin Verlag GmbH, modifiziert nach [3]

Molekularpathologische Diagnostik

Welche Tests sind wichtig beim Mammakarzinom?

Sonderbericht | Beauftragt und finanziert durch: AstraZeneca GmbH GmbH, Hamburg
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Praxisabgabe mit Hindernissen

Warum Kollege Gieseking nicht zum Ruhestand kommt

Lesetipps
Krankenkassen haben zum Jahreswechsel schlechte Botschaften für ihre Mitglieder: die Zusatzbeiträge steigen stark. Die Kritik an versäumten Reformen der Ampel-Koalition ist einhellig.

© Comugnero Silvana / stock.adobe.com

Update

62 Kassen im Beitragssatz-Check

Höhere Zusatzbeiträge: So teuer wird Ihre Krankenkasse 2025