Unterhaus-Bericht entsetzt Ärzte- und Pflegeverbände
Personalkrise im Britischen Gesundheitsdienst: „Gefährlich fürs Patientenwohl“
Allein in England fehlen dem Britischen Gesundheitsdienst NHS 12.000 Klinikärzte und mehr als 50.000 Pflegekräfte und Hebammen. Entspannung ist nicht in Sicht. Ärzte- und Pflegeverbände schlagen Alarm: die Patientensicherheit sei nicht mehr zu gewährleisten.
Veröffentlicht:London. „Katastrophal“, „gefährlich für das Patientenwohl““ oder, wie es ein Londoner Klinikarzt formuliert, „eine nationale Schande“ – mit diesen Äußerungen reagierte die britische Ärzteschaft auf einen neuen und auch international für Schlagzeilen sorgenden Unterhaus-Bericht über den Personalmangel im britischen Gesundheitswesen.
Die Veröffentlichung des Reports, der in Zusammenarbeit mit diversen Organisationen darunter dem international angesehenen Nuffield Trust erstellt wurde, verzögerte sich mehrfach. Bei der Vorstellung des Papiers zum Wochenbeginn wurde klar, warum das Londoner Gesundheitsministerium nicht wollte, dass das Papier öffentlich wird.
Denn: „Die anhaltende Unterbesetzung stellt ein ernsthaftes Risiko für die Sicherheit von Personal und Patienten dar.“ Allein in England fehlten dem staatlichen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) „rund 12.000 Klinikärzte“ und „mehr als 50.000 Pflegekräfte und Hebammen“, stellen die Parlamentarier des Gesundheitsausschusses ernüchternd fest.
Britischer Ärztebund: „Es ist schlimmer denn je“
Zwar steckt der zu rund 90 Prozent aus allgemeinen Steuermitteln finanzierte NHS seit vielen Jahren in einer Art Dauerkrise. Allerdings haben sowohl die Pandemie als auch der Brexit nach Einschätzung des größten britischen Ärztebundes (British Medical Association, BMA) die Versorgungslage in britischen Kliniken und Hausarztpraxen noch einmal deutlich verschlimmert. „Es ist schlimmer denn je.“
So haben zum Beispiel als Folge des Brexit nach Angaben der Krankenpfleger-Gewerkschaft (Royal College of Nursing, RCN) „mehr als 50.000“ qualifizierte Fachkräfte den NHS verlassen. Arbeitsbedingungen und auch -erlaubnis wurden durch das Austreten des Königreichs aus der EU deutlich verschlechtert.
Wichtige ausländische Pflegekräfte werden auf der Insel rar
Da Pflegekräfte ohnehin nicht viel verdienen, der Wechselkurs des britischen Pfund Sterlings seit dem Brexit-Votum 2016 deutlich sank (was die realen Einkommen der oft ausländischen Pflegekräfte weiter schmälerte) und auch die restlichen Rahmenbedingungen in Kliniken und Praxen eher noch schlechter wurden, „fehlt es heute an allen Ecken und Enden“, so ein RCN-Sprecher im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“ in London.
Allein im vergangenen Jahr sank die Zahl der ausländischen qualifizierten Pflegekräfte, die im Königreich arbeiten wollen, um zwei Drittel. Laut der Organisation „The Health Foundation“ ist die Zahl der EU-qualifizierten Pflegekräfte, die neu nach UK kommen, sogar um fast 90 Prozent gesunken.
Noch schlimmer: Laut dem Untersuchungsbericht werde der Bedarf an Gesundheitsleistungen in den kommenden Jahren im Königreich weiter steigen. So würden in den kommenden Jahrzehnten 475.000 neue Arbeitsplätze im Gesundheitssektor und rund 490.000 neue Pflegestellen benötigt.
Keine handlungsfähige Regierung
Wo die Fachkräfte herkommen sollen? Darauf wußte das Londoner Gesundheitsministerium auf Anfrage der Ärzte Zeitung keine Antwort. Sowohl ärztliche Berufsverbände als auch Patientenorganisationen sehen dringenden Handlungsbedarf.
Erschwerend kommt hinzu, dass es im Königreich derzeit quasi keine handlungsfähige Regierung und keinen handlungsfähigen Gesundheitsminister gibt. Der bisherige Gesundheitsminister Sajid Javid war im Strudel des Skandals um den kontroversen Noch-Premier Boris Johnson zurückgetreten. Bis die Regierung neu aufgestellt ist, dürfte es nach Einschätzung gesundheitspolitischer Beobachter bis Mitte oder Ende September dauern.