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Rettungsdienst in der Ukraine: Junge Struktur, erwachsene Sorgen
Die Lage in der Ukraine bleibt angespannt: Schon die COVID-Pandemie forderte das Land enorm, nun droht ein Krieg mit dem Nachbarn im Osten. Der erst im Aufbau befindliche Rettungsdienst der Malteser spürt steigende Nachfrage nach Erste-Hilfe-Kursen – auch von Ärzten.
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Der Malteser Hilfsdienst engagiert sich in der Ukraine, um die Zivilbevölkerung, darunter auch Ärzte, in Erster Hilfe zu schulen und – hier im Bild – um traumatisierte Personen zu unterstützen.
© Stanislav Krupar/Malteser Intern
Köln/Kyiv. Die politischen Bemühungen, einen Krieg in der Ukraine zu vermeiden, laufen auf Hochtouren: zahllose Telefonate, diplomatische Treffen hochrangiger Politiker unterschiedlicher Nationen, Beratungen ohne Unterlass. Und dennoch bleibt die Lage in der Ukraine weiterhin angespannt. „In Europa droht wieder ein Krieg“, so Bundeskanzler Olaf Scholz am Samstag auf der Münchner Sicherheitskonferenz. „Die medizinische Versorgung im Osten der Ukraine könnte zusammenbrechen, sollte sich der Konflikt mit Russland weiter zuspitzen“, warnt die humanitäre Organisation „Ärzte der Welt“ nun in einer Mitteilung.
Rund die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen im Osten der Ukraine seien schon jetzt als Folge der seit acht Jahren andauernden bewaffneten Auseinandersetzung beschädigt oder nicht mehr voll betriebsfähig. Wegen des massiven Fachkräftemangels sei das verbliebene Gesundheitspersonal stark überlastet. Die Corona-Pandemie habe die Lage zusätzlich verschärft.
Kriegsangst dominiert Corona-Sorge
Die Anzahl der täglichen Corona-Neuinfektionen in der Ukraine liegt offiziellen Zahlen zufolge aktuell bei 35 .227. Im Durchschnitt der letzten sieben Tage wurden 32 .532 Neuinfektionen pro Tag erfasst, die Inzidenz beträgt 523,9 (Stand 18.02.). Rund 35 Prozent der Bevölkerung gelten als vollständig geimpft, eine Auffrischungsimpfung haben 1,5 Prozent der Bevölkerung erhalten (Stand 16.02.). In den separatistischen Regionen Donezk und Luhansk liegt die Impfquote laut „Ärzte der Welt“ deutlich niedriger (12-14 Prozent).
Auch wenn die Pandemie, die der Bevölkerung auch wirtschaftlich zu schaffen macht, weiter andauert, werden die Sorgen derzeit von etwas anderem dominiert. „Die Kriegsangst verdrängt die akute Sorge vor COVID-19“, weiß Pavlo Titko, Vorstandsvorsitzender der Malteser in der Ukraine, der die Auswirkungen in der täglichen Arbeit seiner Organisation spürt und eine „deutliche Zuspitzung“ der Lage ausmacht. „An Normalität ist schon lange nicht zu denken“, sagt Titko, „gefühlt ist jeder krank.“ Das wirke sich auf die Psyche der Menschen aus, mache mürbe und lasse die Bedarfe nach psychologischer und psychosozialer Unterstützung weiter steigen.
Nachfrage an Erste-Hilfe-Kursen steigt
Bereits kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion hat – u.a. unterstützt vom Malteser Hilfsdienst aus Deutschland – der Aufbau der Malteser Ukraine begonnen. Seit 1993 führt die Hilfsorganisation Erste-Hilfe-Kurse durch und engagiert sich in vielfacher Hinsicht für hilfsbedürftige Menschen im Land. Die angespannte Situation im Osten des Landes hat nun zu einer verstärkten Nachfrage nach Erste-Hilfe-Kursen geführt, wie Titko berichtet: „Seit 2014 (Jahr der Euromaidan-Proteste und der Annexion der Krim, Anm. d. Red.) ist die Nachfrage nach Kursen immer mehr gewachsen, aber seit einem Monat ging sie über in einen Andrang.“
Seit Ende Januar würden täglich bis zu fünf Erste-Hilfe-Kurse angeboten, auch an den Wochenenden. Interesse an den Kursen hätten unter anderem Ärzte, Medizinstudenten oder Mitarbeiter aus Sozialdiensten, Kirchen oder Nicht-Regierungsorganisationen. „Die Warteschlange ist groß, die Kapazitäten, Menschen und Materialien für eine solche Nachfrage aber nicht ausgelegt“, gibt Titko zu Bedenken.
Ehrenamtlicher Rettungsdienst noch im Aufbau
Seit 2014 befinden sich die Malteser Ukraine außerdem im Aufbau eines landesweiten Rettungsdienstes mit ehrenamtlichem, nicht-ärztlichem Rettungspersonal. In zwölf Städten der Ukraine seien mittlerweile entsprechende Strukturen mit Rettungskräften entstanden. Mit der Finanzierung durch Renovabis, Malteser Deutschland und ukrainische Geber wurde außerdem in Ivano-Frankivsk ein Logistikzentrum für Rettungsdienste eingerichtet. Ivano-Frankivsk ist eine Stadt im Westen der Ukraine, unweit der polnischen Landesgrenze. Pavlo Titko: „Es ist ein Beispiel, wie das Rettungswesen in der Ukraine sinnvoll gestärkt werden kann. Aber es ist bisher nur an einem Ort gut aufgestellt. Wir brauchen noch mehr davon.“
Insgesamt seien die Rettungsdienststrukturen noch sehr jung, heißt es auch von Malteser-Engagierten aus der Ukraine. Da es keine staatliche Unterstützung gebe, fehlten finanzielle Mittel, aber auch Materialien wie medizinische Hilfsgüter, chirurgische Materialien, Verbandsmaterialien, Infusionen oder Beatmungsbeutel. Auch infrastrukturell seien einige Einheiten nur schlecht aufgestellt. So würden etwa Rettungs- und Krankentransportwagen gebraucht.
Im Ernstfall, so die Befürchtung der Malteser in der Ukraine, könnte es deshalb zu Versorgungsengpässen kommen. Eine Einschätzung, die auch „Ärzte der Welt“ teilt: „Sollte sich der Konflikt weiter verschärfen, droht ein Kollaps der medizinischen Versorgung“, warnt François De Keersmaeker, Direktor der Organisation in Deutschland.