Polypharmazie

Sieben auf einen Streich

Zu viele Arzneien bei Älteren? Die Barmer GEK schlägt mit ihrem neuen Arzneireport Alarm: Jeder dritte Bürger ab 65 brauche täglich fünf oder mehr Arzneien. Kassen--Vize Schlenker nutzt diese Zahl, um für die E-Card zu werben.

Von Sunna Gieseke Veröffentlicht:
Bunter Cocktail: gesund oder ungesund?

Bunter Cocktail: gesund oder ungesund?

© Özgür Donmaz / photos.com

BERLIN. Ein Drittel der Menschen ab 65 Jahren bekommt fünf oder mehr verschiedene Arzneimittel zur täglichen Einnahme verschrieben. Bei den über 80-Jährigen ist es sogar fast die Hälfte. Das geht aus dem Arzneimittelreport 2013 der Barmer GEK hervor, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.

Demnach nehmen Männer über 65 Jahre im Durchschnitt täglich 7,3 Wirkstoffe ein, bei Frauen dieser Altersgruppe sind es 7,2. Lediglich 16,5 Prozent der Männer und Frauen über 65 Jahre nehmen gar keine Wirkstoffe ein.

Insgesamt 8,2 Prozent dieser Altersgruppe nehmen acht bis zehn Wirkstoffe, 3,4 Prozent elf Wirkstoffe und mehr. "Darunter leidet vor allem die Therapietreue", warnte der Bremer Versorgungsforscher und Mitautor der Studie, Professor Gerd Glaeske.

Patienten könnten eher mal ein Medikament vergessen. Bei der Einnahme vieler Medikamente seien zudem Wechselwirkungen wahrscheinlicher. "Gerade die Ergebnisse zur Polypharmazie zeigen, dass wir dringend mehr Vernetzung und Transparenz im Gesundheitswesen brauchen", sagte Barmer GEK-Vize Rolf-Ulrich Schlenker.

Die älteren Menschen hätten oft mehrere Fachärzte: Durch eine elektronische Patientenakte könnten die Versorgungspfade dieser Ärzte transparenter werden. Damit ließen sich Doppeldiagnostik, Übertherapie und Fehlmedikation vermeiden.

"Elektronische Gesundheitskarte und elektronisches Rezept zeigen den behandelnden Haus- und Fachärzten, wer welche Medikamente verschreibt", so Schlenker. Die Ärzte müssten daher ihre Blockade unter anderem gegen die E-Card aufgeben, forderte der Barmer GEK-Vize.

Kasse will Mehrpartnermodelle aufbauen

Die Bundesärztekammer (BÄK) widerspricht: "Die Ärzteschaft würde sich niemals gegen Neuerungen stellen, die sich positiv auf die Patientenversorgung auswirken", sagte Dr. Franz-Joseph Bartmann, Telematikbeauftragter der BÄK der "Ärzte Zeitung".

Viele Anwendungen auf der elektronischen Gesundheitskarte seien allerdings in der ersten Testphase nicht ausgereift und deshalb ungeeignet gewesen, die positiven Ziele des Projektes zu erreichen. "Diese Schwachstellen haben wir benannt und uns gleichermaßen konstruktiv wie kritisch in den weiteren Projektverlauf eingebracht", so Bartmann.

Die Ärzte führen die Diskussion um die E-Card auch im nächsten Jahr fort: Der Vorstand der Bundesärztekammer soll beim 117. Ärztetag 2014 in Düsseldorf ausführlich über die Zusammenarbeit in der gematik berichten.

Die geringe Akzeptanz der Karte trotz intensiver Begleitung durch die Ärzte, machten eine kritische Auseinandersetzung mit der gematik dringend erforderlich, hieß es kürzlich in einem in einem Entschließungsantrag auf dem 116. Deutschen Ärztetag in Hannover.

Die Barmer GEK plant derweil die Therapietreue der Patienten durch Mehrpartnermodelle bei den Rabattverträgen zu erhöhen. "Das habe Vorteile für Arzt, Apotheken, Großhandel und Patient", so Schlenker.

Das soll gleichzeitig die Lieferfähigkeit der Arzneien verbessern. "Damit steigt die Akzeptanz und mehr Versicherte können Rabatt-Arzneimittel erhalten", so Schlenker. Die Barmer GEK will durch dieses Modell die Rabattquote von derzeit 75 auf 85 Prozent erhöhen.

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 12.06.201313:26 Uhr

Fehlalarm?

Die Barmer GEK schlägt mit ihrem neuen Arzneireport 2013 wieder einmal Alarm! Der Bremer Pharmako-Epidemiologe Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske und der Barmer GEK-Vize Dr. jur. Rolf-Ulrich Schlenker beklagen in ihrer Pressekonferenz insbesondere die Polypharmazie der Bundesbürger ab dem 65. Lebensjahr, o h n e bio-psycho-sozialmedizinische Berücksichtigung von Epidemiologie, Prävalenz und Inzidenz zunehmender Krankheitsentitäten und Multimorbiditäten im Alter.

Von den 15 Autoren/-innen des Arzneimittelreports 2013 der Barmer GEK sind 9 weiblich und 6 männlich. Ein Psychiater und ein Allgemeinmediziner mit früherer Praxiserfahrung sind als ausgebildete Ärzte vertreten. Die übrigen beruflichen Hintergründe bewegen sich von der Veterinärmedizin über Public Health (MPH), Pharmazie, PTA, Geografie, Soziologie bis hin zu EDV- und Medienspezialisten.

Ein echter Dialog m i t den Ärztinnen und Ärzten vor Ort wird n i c h t gesucht. Eher wird ü b e r die niedergelassenen Vertragsärzte gesprochen, die im GKV-Bereich viel zu viele (nutzlose?) Medikamente verordnen würden. Zu Recht wird beklagt, dass nur eine elektronische Patientenakte bei den Versorgungspfaden verschiedener Haus-, Fach- und Spezialärzte bzw. Kliniken Transparenz und Rationalität schaffen könne. Damit würden tatsächlich Doppeldiagnostik, Übertherapie und Fehlmedikation vermieden werden. Doch schon das Beispiel möglicher Therapietreue-Mängel bei 8,2 Prozent der über 65-Jährigen, die acht bis zehn Wirkstoffe, und den 3,4 Prozent, die elf Wirkstoffe und mehr einnehmen, ergeben Adhärenz- und Compliance-Probleme. Die Therapietreue leidet insbesondere bei Wechselwirkungen, Nebenwirkungen und dem Vergessen von Medikamenten proportional zu der verordneten Menge.

Doch gerade dort, wo im häuslichen Milieu oder in Pflegeeinrichtungen Medikationsfehler gemacht werden, helfen "Elektronische Gesundheitskarte und elektronisches Rezept" den Betroffenen n i c h t weiter: Weil sie s e l b s t die elektronischen Signaturen nicht lesen und interpretieren können. Das ist nur eine der vielen, nicht nur patientenbezogenen Schwachstellen der E-Cards im Gesundheits- und Krankheitswesen.

Hauptprobleme sind und bleiben die immer schlechter werdenden Bewältigungsstrategien ("Coping") bei Krankheit, Chronizität, Behinderung und Teilhabeeinschränkung. Weit über die Hälfte der 65-Jährigen haben erhöhten Blutdruck und entwickeln eine hypertensive Herzkrankheit. Typ-2-Diabetes, umwelt-, ernährungs- und raucherbedigte Erkrankungen nehmen zu.
Die Lebenserwartung bei Systemerkrankungen wie Krebs, MS, KHK, HIV-Infektionen, Hepatopathie, Parkinson, Demenz, Alzheimer, Kollagenosen, p-AVK, Psychopathien etc. steigt erfreulicherweise. Während die Versorgungsforschung zugleich beschreibt, wie die Schere zwischen Arm und Reich bzw. zwischen psychischen, somatischen und sozial bedingten Erkrankungen immer weiter aufgeht. Und dann gibt es noch den gigantischen Bauchladen rezeptfrei erhältlicher Medikamente, die völlig unkontrolliert nebenher eingenommen werden können. Vom Überangebot bei den Nahrungsergänzungsmitteln statt frischer, gesunder Ernährung will ich gar nicht anfangen.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

Bernd Groeper 12.06.201312:04 Uhr

Polypharmazie ?!?

Mittlerweile gibt es viele tolle und sinnvolle Kombinationen. Bei z.B. Diabetes u Hochdruck kann man mit Metform.+DPP4 Hemmern 1 Tabl. sparen. Beim Hochdruck geht es sogar von 3 auf 1 Tabl. runter. (3er Fixkombis) z.B. Amlo+ Valsa+HCT
Das reduziert die Tabletten last sehr.

Dr. Birgit Bauer 12.06.201310:34 Uhr

Sind wir wirklich so degeneriert ?

Ein Aufschrei, oh weh, oh weh, 7 unterschiedliche Wirkstoffe/Pat. und gleich wird wieder nach Elektronik gerufen, wie wäre es mit mehr Zeit für die Pat.zur ausführlichen Anamneseerhebung,zur Kommunikation unter den beteiligten Kollegen und zur Bewußtseinsvermittlung, dass ärztliche Behandlung nicht aus der Therapie einzelner Symptome sondern einer ganzheitlichen Person besteht. Und das ginge alles - und das auch ganz ohne sich der anfälligen Technik auszuliefern - im Sinne des Pat. nur mit mehr Zeit, weniger Kontrollwahn und einfach nur dem Wollen.
M.f.G. B.Bauer

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