Vor dem Schätzerkreis
TK-Chef Jens Baas: Krisenreaktionsfähigkeit der Krankenkassen wird eingeschränkt
Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen steigen rasant. In dieser Woche tritt der Schätzerkreis beim Bundesamt für Soziale Sicherung zusammen, um den Finanzbedarf der GKV für 2025 zu ermitteln und den dafür notwendigen durchschnittlichen Zusatzbeitrag vorzuschlagen.
Veröffentlicht:Berlin. Die Versorgung der gesetzlich Versicherten verteuert sich in raschem Tempo. Von einer „entfesselten Ausgabendynamik in der Gesetzlichen Krankenversicherung“ ist in den Krankenkassen die Rede. So schnell wie das Beitragsgeld ausgegeben werden muss, kommt es nicht herein. Kassenvertreter warnen vor einer Beeinträchtigung der Krisenreaktionsfähigkeit der Krankenkassen.
Der in den vergangenen Jahren als Schlichter im Schätzerkreis fungierende Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem hat erst vor wenigen Tagen die Krankenkassen als sich am „Rande der Liquidität“ bewegend bezeichnet und Beitragssatzanstiege wie seit 20 Jahren nicht mehr vorhergesagt. Eine gesellschaftliche Diskussion über Leistungsbegrenzungen sei notwendig, so Wasem.
2023: 4,5 Prozent Plus für Vertragsärzte, 7,5 Prozent für Kliniken
Das Jahr 2023 hat die GKV mit einem Defizit von 1,9 Milliarden Euro abgeschlossen. Ausgabensteigerungen werden in praktisch allen Leistungsbereichen gemeldet, über alles gerechnet um 7,2 Prozent.
Die vertragsärztliche Versorgung liegt mit 4,5 Prozent am unteren Ende der Skala. Stationäre Behandlungen erreichten ein Plus von 7,5 Prozent, Hilfsmittel ebenso. Die Arzneimittelrechnung ist um 9,6 Prozent gestiegen und Heilmittel sowie die Ausgaben für das dazugehörige Personal um 10,1 Prozent.
Schätzerkreis war zu defensiv
Mit dieser Situation ist der Schätzerkreis beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) konfrontiert, wenn er an diesem Montag und Dienstag zusammentritt, um die wahrscheinliche Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitrag des kommenden Jahres zu ermitteln.
Der Schätzerkreis, dem Experten aus dem Bundesgesundheitsministerium, dem GKV-Spitzenverband und des BAS angehören, muss sich zudem damit auseinandersetzen, dass er im vergangenen Jahr mit seinen Prognosen ziemlich daneben lag.
Auf 1,7 Prozent hatten die Fachleute den durchschnittlichen Zusatzbeitrag geschätzt. Tatsächlich liegt der zur Kostendeckung führende Wert im Schnitt real derzeit schon bei 1,94 Prozent. Die von den Kassen tatsächlich erhobenen Zusatzbeiträge reichen bereits bis über 3,3 Prozent hinaus.
Abbau der Reserven treibt Zusatzbeiträge
Gleichzeitig wirkt sich der gesetzlich vorgegebene Abbau der Reserven bei den verbliebenen 94 Kranken- und Ersatzkassen aus. Ein Drittel der Kassen musste im laufenden Jahr unterjährig den Zusatzbeitrag erhöhen, 23 davon hatten ihre Beiträge bereits zu Jahresbeginn angepasst. Diejenigen, die dies nicht getan haben beziehungsweise nicht tun durften, haben stattdessen die Rücklage aufgebraucht. Dies ist gesetzlich vorgeschrieben. Lauterbachs Vorgänger im Bundesgesundheitsministerium, der CDU-Politiker Jens Spahn, hatte dies mit dem Spruch „Krankenkassen sind keine Sparkassen“ durchgesetzt.
Der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse (TK) Dr. Jens Baas kann mit dieser Parole wenig anfangen: „Die Kassen sind dazu verpflichtet worden, Rücklagen abzubauen und teilweise auch an den Gesundheitsfonds abgeben zu müssen. Dieses Geld wurde dazu genutzt, die Finanzlöcher in der GKV zu stopfen, aber nicht für sinnvolle Investitionen. Das Geld ist jetzt weg, und wir stehen vor den gleichen Problemen“, sagte Baas der Ärzte Zeitung in dieser Woche auf Anfrage.
Der Markt wird volatiler
Baas verwies darauf, dass die Planung für die Krankenkassen deshalb „extrem schwierig“ geworden sei, weil keine Rücklagen mehr da seien. Die seien inzwischen so gering, dass sie, wenn etwas passiere, schneller den Beitrag anpassen müssten. „Unterjährige Beitragssatzanpassungen werden wir in Zukunft häufiger sehen. Der Markt wird volatiler“, sagt Baas. Der Abbau der Reserven bedeute, dass die Krisenreaktionsfähigkeit der Kassen stark eingeschränkt werde.
Mit dieser Volatilität muss nun aber auch der Schätzerkreis umgehen. Marktbeobachter gehen davon aus, dass die Schätzer 0,6 bis 0,8 Prozentpunkte auf den aktuellen Durchschnittswert von 1,7 draufpacken werden. Im Schnitt über alle Kassen werde der Zusatzbeitrag über 2,5 Prozent liegen.
Kassen beklagen zu niedrigen Steuerzuschuss
Das deckt sich mit der Prognose der Vorstandsvorsitzenden des GKV-Spitzenverbands Dr. Doris Pfeiffer aus dem Juli diesen Jahres. Sie hatte einen zusätzlichen Finanzbedarf der Kassen von 0,5 bis 0,6 Beitragssatzpunkten für das Jahr 2025 angekündigt. Und dies nur für den Status quo der Versorgung.
Alle Kassen mahnen die Politik seit Jahren an, dass sie eigentlich gesamtgesellschaftliche Kosten wie zum Beispiel die Krankenversicherung von Bürgergeldempfängern oder Rentenbeiträge für pflegende Angehörige nicht länger aus dem Beitragstopf, sondern ordnungspolitisch sauber aus dem Steuertopf finanzieren solle. Der reguläre Steuerzuschuss von regulär 14,5 Milliarden Euro im Jahr reiche dafür nicht mehr aus.
Politische Entscheidungen treiben die Beiträge
Tatsächlich könnten auch politische Entscheidungen wie der Verzicht auf eine deutliche Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze weitere Prozentpunkte obendrauf bedeuten. Zudem gibt es eine gesetzlich vorgegebene Mindestreserve. Rutschen die Kassen darunter, müssen sie die Reserve auffüllen. Auch dies kann die Beiträge treiben.
Das gesetzlich vorgegebene Verfahren, das mit dem Treffen des Schätzerkreises in Gang gesetzt wird, führt dazu, dass der Bundesgesundheitsminister am 1. Januar den neuen durchschnittlichen Zusatzbeitrag verkünden wird. (af)