Blaupause für geplante Pflegereform

Verbändebündnis will Pflegesystem auf den Kopf stellen

Die Pflegeversicherung ist finanziell in Nöten und strukturell angestaubt. Verbände haben nun Ideen für den Umbau vorgelegt. Geworben wird für einen sogenannten Sockel-Spitze-Tausch – und das Schleifen der Sektoren.

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Alltag in einem Heim: Die Pflegeversicherung, vor 30 Jahren eingeführt, ist in Nöten.

Alltag in einem Heim: Die Pflegeversicherung, vor 30 Jahren eingeführt, ist in Nöten.

© unai / stock.adobe.com

Berlin. Die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD sind gestartet – schon Ende nächster Woche sollen Ergebnisse vorliegen. In ihrem Sondierungspapier, das als Grundlage der Gespräche dient, haben CDU, CSU und SPD auch eine Pflegereform angekündigt.

Ideen, wie diese Reform aussehen könnte, hat jetzt eine von mehr als 120 Pflegeunternehmen sowie 60 Verbänden getragene Initiative vorgelegt. Grundlage ist ein von dem Bremer Gesundheitsökonomen Professor Heinz Rothgang erarbeitetes Konzept zur alternativen Ausgestaltung der Pflegeversicherung.

„Die künftigen Koalitionäre versprechen eine große Pflegereform, wir liefern die Blaupause dafür“, sagte der Sprecher der Initiative Pro-Pflegereform und Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart, Bernhard Schneider, am Freitag vor Journalisten.

Umkehrung der (Pflege-)Kostenverteilung

Kern des Konzepts von Rothgang ist der Sockel-Spitze-Tausch bei den pflegebedingten Heimkosten (EEE inklusive Ausbildungskosten). Die Idee: Bisher bezahlt die Pflegekasse einen festen Sockel. Die nach oben offene Spitze müssen die Pflegeversicherten als Eigenanteil selber stemmen.

Mit dem Sockel-Spitze-Tausch würde das Ganze auf den Kopf gestellt: Die Pflegeversicherten bezahlen den Sockel – für alle weiteren Kosten kommt die Pflegekasse auf. Konkret hat Rothgang einen Sockelbetrag von 470 Euro berechnet, mit dem die pflegebedingten Eigenanteile für 48 Monate festgelegt und somit nicht angetastet würden.

Das Risiko steigender Pflegekosten übernähme „solidarisch“ die Pflegeversicherung. Hinzu kämen wie gehabt Miete, Haushaltskosten und „private Wunschleistungen“. In Deutschland werden derzeit rund 750.000 Menschen in Pflegeheimen betreut und etwa 4,4 Millionen Menschen zu Hause durch Angehörige und ambulante Dienste.

Hebel gegen das Kostenrisiko Pflegebedürftigkeit?

Mit der vorgeschlagenen Alternative werde eine „funktionsfähige Sozialversicherung“ umgesetzt und die Pflegeversicherten vor dem „Kostenrisiko durch Pflegebedürftigkeit“ geschützt, schreibt Rothgang in seinem Gutachten. Laut Berechnungen der Ersatzkassen müssen Pflegebedürftige im ersten Jahr eines Heimaufenthaltes im Bundesdurchschnitt mittlerweile knapp 3.000 Euro monatlich berappen.

Freilich: Der Pflegeversicherung entstünden mit dem Sockel-Spitze-Tausch zusätzliche Kosten. Um diese aufzufangen, sei laut Gutachten der Beitragssatz um 0,6 Prozentpunkte zum Umstellungszeitpunkt anzuheben. Bis 2045 sei mit einem Anstieg um 1,1 Prozentpunkte zu rechnen. „Vollständig“ verhindern lasse sich die Beitragserhöhung durch Steuerzuschüsse und die Umgestaltung der Pflegeversicherung in eine Bürgerversicherung.

Balancieren am finanziellen Abgrund

Der Sprecher der Initiative Pro-Pflegereform Schneider kritisierte, in den Ampel-Jahren sei in Sachen Pflege nicht viel passiert. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) habe die Pflege „links liegen lassen“. Der GKV-Spitzenverband beziffert das Defizit der Pflegeversicherung für 2024 auf rund 1,5 Milliarden Euro. Für dieses Jahr erwartet der Verband eine Finanzlücke von rund einer halben Milliarde Euro.

Die Pflegeversicherung balanciere am Rande der Zahlungsunfähigkeit, die Eigenanteile seien für viele unbezahlbar geworden, warnte auch Schneider. Zudem ächze die Pflegebranche unter Bürokratielasten und einer „innovationsfeindlichen Systemstruktur“ aus den 1990er-Jahren.

Das von Rothgang vorgelegte Konzept zielt denn auch auf die Pflegestrukturen ab. So soll die starre Aufteilung ambulant/stationär wegfallen und durch „individuelle Pflegearrangements“ abgelöst werden. „Zukünftig macht es also keinen Unterschied, ob jemand in einem (jetzt noch) Pflegeheim, in der eigenen Wohnung, in einer Wohngemeinschaft oder im betreuten Wohnen lebt“, heißt es auf der Webseite der Initiative Pro-Pflegereform.

„Sockel-Spitze-Tausch setzt falsche Akzente“

Kritik am Sockel-Spitze-Tausch übte der AOK-Bundesverband. „Wir sehen das Modell des sogenannten Sockel-Spitze-Tauschs kritisch, weil es die falschen Akzente setzt und auf lange Sicht kaum finanzierbar erscheint“, sagte ein Sprecher des Verbandes der Ärzte Zeitung.

Er erinnerte daran, dass zur Dämpfung der Eigenanteile in der stationären Pflege auf Grundlage des neuen Paragrafen 43c im SGBV XI im vergangenen Jahr rund 6,4 Milliarden Euro „dazu geschossen“ worden seien. Der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sei bei Einführung der Zuschüsse noch von 3,3 Milliarden Euro ausgegangen. (hom)

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