Gutachten

Sachverständige fordern radikales Umdenken beim Digitalisieren

Das Gesundheitswesen in Deutschland zu digitalisieren, ist ein zäher Prozess. Ein aktuelles Gutachten der Gesundheitsweisen fordert nun ein radikales Umdenken – und eine Neudefinition des Datenschutzes.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Wolfgang Greiner, Ferdinand Gerlach und Petra Thürmann vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen stellen in Berlin das Gutachten „Digitalisierung“ vor.

Wolfgang Greiner, Ferdinand Gerlach und Petra Thürmann vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen stellen in Berlin das Gutachten „Digitalisierung“ vor.

© Wolfgang Kumm/dpa

Berlin. Eine sinnvolle Nutzung von Gesundheitsdaten ist in Deutschland fast unmöglich. Darauf weist der Sachverständigenrat Gesundheit (SVR) in seinem aktuellen Gutachten „Digitalisierung für Gesundheit – Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems“ hin.

Leben und Gesundheit der Menschen in Deutschland könnten besser geschützt werden, wenn endlich die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen verantwortlich und wissenschaftlich sinnvoll genützt würden, haben die Ratsmitglieder dazu am Mittwoch bei der Vorstellung der Arbeit geäußert.

Recht auf Datenverarbeitung

Die Gesundheitsdaten sollten dafür über ihre Funktion als Träger von Abrechnungsinformationen hinaus der Verbesserung der Versorgung, der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung, aber auch der Forschung dienen, ohne die Patientensouveränität zu verletzen.

In einem „dynamisch lernenden Gesundheitssystem“ müsse der Datenschutz im Gesundheitswesen das bisher oft vernachlässigte Anrecht des Patienten auf eine seinem Leben und seiner Gesundheit dienenden Verarbeitung seiner gesundheitsrelevanten Daten berücksichtigen und dadurch zu seiner bestmöglichen Gesundheitsversorgung beitragen, heißt es in der aktuellen Arbeit der Gesundheitsweisen.

Lehren aus der Pandemie

Noch sind die Verhältnisse anders. „Deutschland steht bei der Digitalisierung weit hinter anderen Ländern zurück“, konstatieren die Sachverständigen. Es zeige sich ein dringlicher Bedarf an strukturellen, informationstechnologischen, organisatorischen und rechtlichen Verbesserungen“, heißt es einleitend im Gutachten. „Wir brauchen eine ehrliche Diskussion über bisherige Fehlentwicklungen“, forderte der Vorsitzende des Rates, Professor Ferdinand Gerlach, am Mittwoch nach der Übergabe des Gutachtens an Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Die Politik sei bereits ein Stück weit in die richtige Richtung gegangen. Ziel müsse nun die Neuausrichtung der Gesundheitsversorgung hin auf ein digitales, systematisch lernendes Gesundheitssystem sein.

In der Corona-Pandemie sei deutlich geworden, dass die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen nicht nur in einem Abwägungsverhältnis mit dem eigenen Leben und der eigenen Gesundheit sowie dem Leben und Gesundheit anderer, sondern auch zum Beispiel mit Erziehung und Bildung sowie mit Kultur- und Arbeitsleben als ideellen und materiellen Grundlagen des menschlichen Miteinanders steht, heißt es in dem Gutachten. Die Sachverständigen wollen an dieser Stelle nun die Perspektive weiten.

„Beim Thema Datenschutz gehe es nicht nur um effizienten Schutz von Leben und Gesundheit des Einzelnen und seiner Mitmenschen, sondern auch darum, das Wirtschaftsleben ebenso wie Bildung, Kultur und Freizeitaktivitäten nicht unnötig einzuschränken“, ergänzte der stellvertretende Ratsvorsitzende Professor Wolfgang Greiner. Dafür müssten Forscher Daten auswerten dürfen.

Patientenzentrierte Ansätze

Verstellt ist der Blick auch, wenn es um eine mögliche Nutzung von Daten aus der elektronischen Patientenakte geht. Seit Aufkommen des Projektes gibt es darum politischen Streit. Befürchtet wird, Daten aus der Akte könnten ökonomischen Gewinninteressen geopfert werden. Gleichzeitig liefern Millionen Menschen Gesundheitsdaten über Fitness-Tracker freiwillig und oft, ohne es zu wissen, bei internationalen Konzernen ab.

„Die Menschen produzieren jeden Tag Abermillionen Daten, darunter sehr viele, die ihre Gesundheit betreffen“, sagte Gerlach. Die meisten wanderten in die Arme von „Datenkraken außerhalb der EU und würden von diesen für kommerzielle Zwecke, Werbung und Werbung ausgewertet.

In dem am Mittwoch veröffentlichten 394 Seiten starken Gutachten plädieren die sieben Mitglieder des Rates daher für einen patientenzentrierten Ansatz der Datenverarbeitung.

Abschied von der Datensparsamkeit

Datenschutz müsse insbesondere mit dem Schutz von Leben und Gesundheit abgewogen und in sinnvollen Einklang gebracht werden“, formuliert der Rat. „Es gilt, Datenschutz im Gesundheitswesen als Teil von Lebens- und Gesundheitsschutz auszugestalten, nicht als deren Gegenteil“, bringen die Sachverständigen das Manko auf den Punkt. Datenschutz müsse vor allem die „sichere Nutzung von Gesundheitsdaten für bessere Versorgung und Forschung“ ermöglichen. Gleichwohl sollten Patienten nach Ansicht der Gutachter das Recht haben, Ärzten den Zugriff auf Daten in der Patientenakte zu verwehren. Eine Löschoption dagegen könne wiederum medizinischen Nutzen beeinträchtigen und den Patienten gefährden.

In diesem Zusammenhang räumen die Gutachter auch gleich das Dogma von der Datensparsamkeit ab. Die Realität habe die „alte Maxime“ der unbedingten Datensparsamkeit und strengen Zweckbindung überholt. Die Forschung benötige große Datenmengen, um am anderen Ende therapeutischen Nutzen für Patienten zu generieren. Die Datensparsamkeit beruhe auf der Annahme, dass eine missbräuchliche Verwendung von Gesundheitsdaten das größte Risiko für Patienten darstelle. Die „erheblichen Risiken“ der „Nichtverwendung“ würden dagegen unterschätzt.

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