Schübe oder progredienter MS-Verlauf

Macht das Alter den Unterschied?

Wenn die Progression der MS einsetzt, sind die Patienten meist um die 40 Jahre alt - egal, ob sie an einer sekundär oder primär progredienten Form leiden. Offenbar tut sich das Gehirn in diesem Alter schwer, Myelinschäden zu reparieren. Aber das lässt sich wohl ändern.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:

BOSTON. Die Gemeinsamkeit ist verblüffend: Bei Patienten mit einer schubförmigen Multiplen Sklerose (MS) kommt es im Schnitt im Alter von 40 Jahren zu einer sekundären Krankheitsprogression.

Im gleichen Alter beginnt in der Regel die primär progrediente MS, und anschließend lassen sich zwischen beiden Verläufen kaum noch klinische Unterschiede feststellen.

Professor Sandra Vukusic von der Universität in Lyon stellte auf dem weltgrößten MS-Kongress in Boston daher die Frage, ob bei der primär progredienten MS die Krankheit einfach nur später beginnt und dadurch sofort einen progredienten Verlauf annimmt oder ob es sich tatsächlich um zwei unterschiedliche Krankheitsentitäten handelt.

Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Klar ist jedenfalls, dass sich die schubförmige von der progredienten Phase deutlich unterscheidet: Bei der schubförmigen MS wandern massiv Lymphozyten ins ZNS ein, es bilden sich deutlich erkennbare ZNS-Läsionen, die partiell oder ganz remyelinisieren.

Bei der progredienten Form kommt es ebenfalls zu Entzündungsreaktionen, sie spielen sich aber eher versteckt in Kompartimenten ab, Vukusic spricht von einer "trapped inflammation".

Hinzu kommen eher diffuse Läsionen in der weißen Substanz sowie eine kortikale Entmarkung und eine Atrophie der Hirnrinde, die an eine Neurodegeneration erinnert. Auch mitochondriale Dysfunktion, eine verstärkte Eisen-Akkumulation und die Unfähigkeit zur Remyelinisierung weisen bei der progedienten MS auf Prozesse hin, wie sie im alternden Gehirn beobachtet werden.

Offenbar scheint das Gehirn im mittleren Lebensalter anders auf die Krankheit zu reagieren als in jungen Jahren.

Schubförmige MS beginnt im Schnitt zehn Jahre früher

Wie ähnlich die progredienten Phasen verlaufen, zeigen etwa Daten der Lyon Cohort Study (Brain 2006; 129:606-616).

Für die Untersuchung war der natürliche Verlauf der Erkrankung bei über 1800 MS-Patienten in der Region Lyon seit 1957 dokumentiert worden. Vom Beginn sowohl der primären als auch der sekundären Progression bis zu einem EDSS-Wert von 6 Punkten dauert es nach diesen Daten im Schnitt sechseinhalb Jahre, bis zu einem Wert von 8 Punkten 17 bis 18 Jahre.

Die Erkrankung scheint ab einem gewissen Punkt ähnlich schnell voranzuschreiten. Entscheidend dafür ist aber offenbar nicht einmal der Übergang in die Progression - vielmehr determinieren die akkumulierten Behinderungen den Verlauf, so Vukusic: Ab einem EDSS-Wert von etwa 4 dauert es vergleichbar lange, bis mit schubförmiger oder primär progredienter MS ein Wert von 6 oder 7 Punkten erreicht wird.

Auch das Alter, in dem ein bestimmter EDSS-Wert gemessen wird, ist dann sowohl bei Patienten mit sekundär progredienter als auch bei solchen mit primär progredienter MS im Schnitt das gleiche.

Einfacher ausgedrückt: Bei einem MS-Patienten mit 50 Jahren lässt sich klinisch kaum noch erkennen, ob die Erkrankung schubförmig begann oder nicht und in welchem Alter er erkrankt ist. Behinderungsgrad und Prognose sind dann weitgehend identisch. Der wesentliche Unterschied für die Patienten: Eine schubförmige MS beginnt im Schnitt zehn Jahre früher.

Für Ärzte und Wissenschaftler gibt es natürlich noch eine Reihe weiterer wichtiger Unterschiede zwischen beiden MS-Formen. Vukusic nannte etwa die massiven Attacken von Lymphozyten bei der schubförmigen MS - sie führen zu Krankheitsschüben mit den charakteristischen fokalen Läsionen. Bei der progredienten MS verläuft die Entzündung offenbar primär Mikroglia- und Makrophagen-vermittelt.

Nach Auffassung der Neurologin müssten Ärzte also eher zwischen schubförmiger und progredienter Krankheitsphase differenzieren und weniger zwischen primär und sekundär progredienter MS. Sie forderte daher, in klinischen Studien mit Medikamenten gegen progrediente MS auch Patienten mit primär progredienter Form einzuschließen, was bisher eher selten der Fall ist.

Myelinbildung wird im Alter unterdrückt

Ein anderes Problem bei der progredienten MS ist wohl das Unvermögen des Gehirns, die entmarkten Axone wieder rasch mit einer Myelinschicht zu überziehen. Die Fähigkeit zur Myelinbildung nimmt mit dem Alter deutlich ab und das mag erklären, weshalb auch die Behinderungsakkumulation stark altersabhängig verläuft:

Beschädigte Axone werden nicht mehr elektrisch isoliert, sie und ihre Nervenzellen sterben ab, diffuse Läsionen der weißen Substanz und eine Hirnatrophie sind die Folge.

Eine Arbeitsgruppe um Dr. Patrizia Casaccia von der Icahn School of Medicine in New York geht davon aus, dass die Myelinbildung im Alter vor allem durch epigenetische Phänomene aktiv gebremst wird.

Die Forscher haben eine zunehmende Azetylierung von Histonen im Alter beobachtet, und diese scheint die Remyelinisierung massiv zu blockieren. Sie sorgt für eine Öffnung des Chromatins an bestimmten Stellen im Genom von Oliogodendrozyten-Progenitorzellen (OPC), was deren Differenzierung zu reifen Myelin-bildenden Oligodendrozyten verhindert, sagte Casaccia auf der Tagung in Boston.

Wird etwa die Histon-Azetylierung durch bestimmte Substanzen forciert, dann lässt sich die Myelinisierung im Tierversuch blockieren. Die Forscher konnten nun auch in menschlichem Hirngewebe die Azetylierung von Histonen in Oligodendrozyten nachweisen, und zwar umso mehr, je älter die Menschen waren.

Zudem fanden sie in Gewebe von MS-Patienten einen erhöhten Azetylierungsgrad. Sie liefern damit also eine Erklärung, weshalb die Myelinbildung bei älteren MS-Patienten nicht mehr so gut funktioniert.

Die New Yorker Forscher weisen damit aber zugleich auf einen neuen Ansatz, wie man die Myelinbildung wieder in Schwung bringen und die Progression eine MS dämpfen könnte. So können die Forscher zwar die Azetylierung der Histone nicht einfach wieder aufheben, aber ihre Auswirkungen auf die Chromatinregulation blockieren. Damit die Azetylierung wirksam ist, benötigen die Zellen das sogenannte Bromdomänen-Protein 1 (BrD1).

Dieses haben die Forscher mit der Substanz Olinon gezielt gehemmt. In ersten Experimenten gelang es dem Team um Casaccia damit tatsächlich, die Oligodendrozyten-Differenzierung zu verstärken. Möglicherweise lassen sich also aus BrD1-Blockern die ersten wirksamen Arzneien zur Remyelinisierung und zur Therapie in der progredienten MS-Phase entwickeln.

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