Japan

Leben 4.0: Gesund, smart, nachhaltig

100 Jahre Nachhaltigkeit – das ist das Ziel der Fujisawa Sustainable Smart Town (FSST) in der Nähe von Tokio. Das Experiment soll demonstrieren, wie sich verschiedene Lebensbereiche vernetzen und so optimieren lassen – auch die Gesundheit und das Alter. Eindrücke einer Ortsbegehung.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Das Committee Center soll den Einwohnern der FSST als zentraler Versammlungsplatz dienen.

Das Committee Center soll den Einwohnern der FSST als zentraler Versammlungsplatz dienen.

© Panasonic

Generationenübergreifende Wohnquartiere sind ein Zukunftstrend – vor allem in Ländern, die mit der Überalterung der Gesellschaft zu kämpfen haben. In Berlin-Adlershof zum Beispiel entsteht das generationenübergreifende Wohnquartier "Future Living Berlin", das nach Angaben des Initiators Panasonic 69 sogenannte Future Living Homes sowie das Future Living Dialog, ein Forum für Smart Home und Connected Life, umfassen wird. Der japanische Elektronikkonzern setzt nicht nur auf das Zusammenleben der Generationen, sondern will diesen Lebensraum alltagstauglich machen mittels Lösungen aus den Bereichen Smart Home, Smart Living, Smart Health, Smart Mobility und Smart Energy.

Panasonic ist mit dem Konzept der Smart City vertraut, die als Option für eine bessere Versorgung in Zeiten des Demografiewandels gesehen wird – nicht nur der gesundheitlichen. 2009 hat das Unternehmen in Japan die Fujisawa Sustainable Smart Town (FSST) in Blickweite des Fuji, rund 50 Kilometer westlich der japanischen Megalopole Tokio auf dem Reißbrett skizziert und sie 2011 nach dem Tohoku-Beben im Nordosten im Hinblick auf die Katastrophensicherheit der Bewohner modifiziert. Baubeginn war 2012.

Vernetzt von der Wiege bis zur Bahre

Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Sprung für die Menschheit? Dieser Gedanke beschleicht den Besucher beim Betreten der Fujisawa Sustainable Smart Town. Von der Mall Fill, einem großen Komplex mit Lebensmitteleinzelhändlern und Gastronomie, kommend, überquert der Besucher die Tokaido-Sen, eine der Haupteisenbahnverbindungen Zentraljapans, und lässt das vertraute japanische Stadtbild mit Menschentrauben, betagten und jungen Fahrradfahrern sowie seinen hochliegenden Stromleitungen hinter sich. Eingegrenzt zwischen der Eisenbahnlinie und dem Shonan New Way, einer hoch frequentierten Verkehrsader in Tokios Nachbarpräfektur Kanagawa, präsentiert sich auf rund 190.000 Quadratmetern auf einem ehemaligen Firmengelände von Panasonic ein Einod der Ruhe und Besinnlichkeit.

Beim Besuch vor Ort Ende Oktober 2017 bietet die FSST einen fast surreal anmutenden Anblick. Obwohl das Areal frei zugänglich ist, herrscht eine für japanische Innenstadtverhältnisse gespenstige Ruhe – die meisten der relativ wenigen Geschäfte befinden sich auf dem FSST-Campus zentral unter dem Dach des Shonan T-Site genannten Komplexes. Fast die einzige Geräuschquelle sind neben dem prasselnden Regen das Treiben der Handwerker auf den Baustellen der nachhaltigen Häuser. Hier und da stehen – analoge – Schilder, die Kaufinteressenten zum Infobesuch in Modellhäuser einladen. Auf dem zentralen Parkplatz vor der Shonan T-Site stehen, passend zum Konzept, hauptsächlich Elektro-Autos – zumeist deutscher Provenienz – sowie Autos von Servicedienstleistern wie der Kleinkinderbetreuung.

Ins Auge sticht neben einer Bushaltestelle ein futuristisch anmutendes Konstrukt aus Glas und Stahl. In den heißen und schwülen Monaten sollen hier Fahrgäste einen Unterschlupf und somit Schutz vor der starken Sonnenstrahlung finden. Gleichzeitig sorgt feinster Sprühnebel für eine kühlere Luft und soll so zur Erholung oder Erfrischung dienen, wie eine Erklärtafel (s. Bild) zeigt. Die FSST mit ihren zentralen Anlaufstellen wie dem Wellness-Square, dem Aktivitätenpark, dem Gemeinde-Center oder auch dem Zentralpark, soll, so Panasonic und die übrigen Konsortialpartner des öffentlich-privaten Projektes, Japan und dem Rest der Welt zeigen, wie nachhaltig und sicher verschiedene Lebenswelten gestaltet werden können – vernetzt von der Wiege bis zur Bahre.

Nippon steht – wie andere Industrienationen auch – unter erheblichem Druck durch die Überalterung der Gesellschaft. Japans größter Forschungsverbund Riken taxiert die Zahl der Pflegebedürftigen in Heimen und Kliniken für 2015 auf knapp 5,7 Millionen Menschen. Die konzeptionelle Idee der smarten nachhaltigen Stadt in der Stadt fußt auf dem Gedanken der kompletten, internetbasierten Vernetzung der Einwohner in den Lebensbereichen Energie, Sicherheit, Mobilität, Gemeinschaft, Gesundheit sowie soziale Interaktion.

Sensorgestützte Überwachung

Obwohl die Stadt keine physischen Zugangsschranken aufweist, versteht sich die FSST für ihre 1000 angestrebten Haushalte als Gated Community, einen geschlossenen Wohnkomplex, – allerdings ohne die in anderen Ländern üblichen Zufahrtskontrollen. Durch eine – freiwillige – sensorgestützte Überwachung sollen zum Beispiel demente, orientierungslose Bewohner zu ihrer eigenen Sicherheit im Blick behalten werden können, wie es in der Konzeptpräsentation exemplarisch heißt. Technisch ist das sicherlich möglich, die ethische Bewertung steht jedem selbst frei.

Bereits Anfang 2014 sind laut Betreibermanagementgesellschaft die ersten von insgesamt 3000 avisierten Bewohnern in die nachhaltige Stadt eingezogen. Bisher können interessierte Käufer zwischen mehreren Anbietern der smarten Häuser wählen. Die Einfamilienhäuser mit vier oder fünf Zimmern kosten zwischen 49 und knapp 70 Millionen Yen – der starke Euro lässt sie mit umgerechnet zwischen 364.000 und 520.000 Euro recht günstig erscheinen, was sie für die regionalen Verhältnisse nicht sind. Die ersten Häuser werden bereits als Gebrauchtimmobilie zum Kauf angeboten. Warum, ist unklar.

Noch offen ist, ob es am Rande der FSST auch Komplexe mit Eigentumswohnungen geben soll. Darüber soll offensichtlich 2020 nach dem Ende der Olympischen Sommerspiele in Tokio entschieden werden. Die Regierung erwartet – ähnlich wie bei den vergangenen drei Olympischen Spielen 1964, 1972 und 1998 – viele positive Impulse von dem Sportereignis. Viele Japaner rechnen nach diesem Top-Event aber eher mit einer massiven Wirtschaftskrise.

Panasonic und seine Konsortialpartner haben sich für die Konzeption des Zukunftslabors auf dem Reißbrett ambitionierte Ziele gesetzt:

Das generationenübergreifende Wohnquartier soll mindestens für die nächsten 100 Jahre nachhaltig sein. Die CO2-Emissionen sollen gegenüber dem Vergleichsjahr 1990 um 70 Prozent reduziert werden, der Wasserverbrauch um rund 30 Prozent gegenüber dem Jahr 2006. Letzteres soll durch den Einsatz wassersparender Produkte sowie dem maximal möglichen Gebrauch von Regenwasser erreicht werden. Hintergrund sei das vierteilige Konzept des Erzeugens, Speicherns, Verwaltens und Sparens von Energie – alles innerhalb der smarten Stadt. Dabei komme das gesamte Angebot an Energielösungen und intelligenten Elektrogeräten von Panasonic zum Einsatz, wie das Unternehmen betont: Zum Beispiel Solarzellen, Wärmepumpen, Lithium-Ionen-Akkus, LEDs sowie energieeffiziente Waschmaschinen und Kühlschränke.

Wie es in der Konzeptpräsentation heißt, werde die FSST dem vermehrten öffentlichen Druck nach einer Energiewende hin zum Gebrauch erneuerbarer Energiequellen gerecht. In der Tat erlebte der Wunsch von der Abkehr der bis dato dominierenden Atomkraft als Energiequelle in Japan nach dem Tohoku-Beben vom 11. März 2011, das die Havarie des Atommeilers Fukushima Daiichi und damit den Kampf gegen die nukleare Verseuchung zur Folge hatte, einen Aufwind. Der vom damaligen Premierminister Naoto Kan als Krisenreaktion avisierte Ausstieg aus der Atomenergie wurde aber kassiert. Denn bereits im April 2014 proklamierte Premierminister Shinzo Abe den Ausstieg aus den Ausstiegsplänen seines Vorvorgängers im Amt. Die Entscheidung sei notwendig, so Abe, um Energie langfristig bezahlbar zu halten und somit nicht zuletzt Wettbewerbsnachteile für die Industrie zu verhindern. Mit seinem neuen Energieplan lässt er sogar die Möglichkeit offen, neue Atomreaktoren zu bauen.

Gesundheit und Sicherheit sind im erdbebenerfahrenen Japan zwei zentrale Themen – auch wenn dabei gerne – politisch wie gesellschaftlich – die fundierte Auseinandersetzung mit der radioaktiven Belastung der Menschen wie im Falle der Havarie des Meilers Fukushima Daiichi nicht so sehr im Fokus steht.

Tsunami ohne Folgen?

Das Gelände der FSST liegt keine drei Kilometer von der Meeresbucht Sagami entfernt – ein Steinwurf für einen gewaltigen Tsunami. Die modern gebauten Häuser sollen solch einer Naturgewalt standhalten, wie es heißt. Unter anderem sollen durch die unterirdische Führung der Stromleitungen sowie den Verzicht auf Gas als Energiequelle die typischen, tödlichen Brandszenarien, wie sie vom Großen Kanto-Beben anno 1923 in der Hauptstadtregion bekannt sowie vom Kobe-Beben 1995 noch in Erinnerung sind, gebannt werden.

Ein wesentliches Ziel der FSST ist zudem, im Notfall – zum Beispiel beim Zusammenbruch der Versorgung als Folge eines Bebens oder Tsunamis – binnen dreier Tage die Versorgungsleitungen wieder funktionsfähig machen zu können. Durch eine ausgeklügelte Versorgungsinfrastruktur soll den Haushalten während dieser Zeit Frischwasser als Trinkwasser sowie für die Essenszubereitung, aber auch für sanitäre Zwecke zur Verfügung stehen. Eine geschützte unterirdische Gasleitung soll den Stromausfall kompensieren helfen. Die Haushalte sollen über Energiespeicherquellen verfügen, die es ihnen auch im Notfall erlauben, Licht in den Häusern sowie Strom für Smartphones und Tablets für die Kommunikation zu haben.

Zentrale Gesundheitsakte

Das Thema Gesundheit und Alter nimmt einen der Themenschwerpunkte der FSST ein. So sollen sich in der Stadt nach Baufertigstellung eine zentrale Klinik, mehrere Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste sowie Fitnessangebote finden.

Die Idee des FSST-Konsortiums war es, die Gesundheit der Bewohner mittels moderner Informations- und Telekommunikationstechnologie – einer Art zentralen Gesundheitsakte – zu überwachen. Zugriff auf diese zentral gespeicherten Informationen sollen demnach – nach Zustimmung durch die Betroffenen – aber nicht nur Vertreter der zentralen FSST-Klinik haben, sondern auch die Arztpraxen, die Apotheke, ambulante Pflegedienste und andere mobile Gesundheitsdienstleister sowie der Sportklub.

Das Thema elektronische Patientenakte genießt in Japan nicht zuletzt durch die Dreifachkatastrophe im Zuge des Tohoku-Bebens vom März 2011 große Aufmerksamkeit, da damals viele Patientendaten – elektronisch wie analog archiviert – Opfer der Zerstörung durch Flut oder Feuer wurden und nicht wieder auffindbar geschweige denn rekonstruierbar gewesen waren.

Ebenfalls auf Basis der zentral verwalteten Gesundheitsdaten soll es für die FSST-Bewohner bedarfsgerechte Lern- und Übungsangebote geben, um die persönliche Gesundheit optimieren zu können. Für Mütter sollen spezielle Infoveranstaltungen für die Kindergesundheit angeboten werden.

Ob sich das FSST-Modell japanweit durchsetzen lassen wird, hängt von vielen limitierenden Faktoren ab. Fujisawa liegt in der Shonan genannten Region, im Sommer vor allem für Surfer und wohlhabendere Tokioter ein beliebtes Ausflugsziel. Die Stadt hat sich in den vergangenen 20 Jahren einem immensen Wandel unterzogen durch das – wie im Falle des FSST-Areals – Stilllegen etlicher Firmengelände. Unweit der FSST gegenüber des Bahnhofs Tsujido zum Beispiel entstand im Zuge des Shonan C-X genannten, kommunalen Stadterneuerungsprojektes auf dem ehemaligen Werksgelände einer Stahlfabrik ein hochmoderner Hochhauskomplex sowie die Ende 2011 eröffnete Terrace Mall Shonan, die landesweit Shoppingfreunde anzieht. Komplett saniert wurde das Shonan Fujisawa Tokushukai Hospital, ein großer Versorger vor Ort.

Gesundheit der kurzen Wege

Ein Konzeptgedanke der FSST ist die Zentrenbildung. So findet sich zum Beispiel in dem Komplex Well-Site neben der Klinik und Arztpraxis unter anderem auch eine Apotheke sowie eine Einrichtung des Betreuten Wohnens für Senioren. Des Weiteren zählt zu den Einrichtungen ein Kindergarten mit 60 Plätzen und ein spezialisiertes Altenpflegeheim mit 100 Betten. Der Pflegeservice steht 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr zur Verfügung.

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