Dr. Ernst Dietrich Munz

"Viel zu oft werden nur Psychopharmaka verordnet"

Seit April führt Dr. Ernst Dietrich Munz die Bundespsychotherapeutenkammer. Im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" spricht er über die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen und über Lichtblicke und Gefahren im Versorgungsstärkungsgesetz.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Munz, bei seiner Verabschiedung sagte Ihr Vorgänger Rainer Richter, dass bei seinem Amtsantritt Menschen aufgrund psychischer Erkrankungen noch stigmatisiert worden seien. Und das zu ändern habe er als Aufgabe angesehen. Was ist die Herausforderung bei Ihrem Amtsantritt als Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer?

Dr. Ernst Dietrich Munz

'Viel zu oft werden nur Psychopharmaka verordnet'

© Funke-Kaiser

Jahrgang 1952

Seit April 2015 Präsident der Psychotherapeutenkammer im Bund

Studium der Psychologie in Trier und Tübingen

Diplom-Psychologe und Diplom-Physiker

Psychotherapeut an der Sonnenberg Klinik GmbH in Stuttgart

Autor und Mitautor von Fachbüchern und Fachartikeln

Dr. Dietrich Munz: Eines unserer Ziele für die Zukunft ist, die Politik der Bundespsychotherapeutenkammer daran auszurichten, dass sich die Versorgung psychisch kranker Menschen weiter verbessert.

Heißt dass, dass die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen in der Gesellschaft fortbesteht?

Munz: Das ist weiterhin ein Problem. Es gibt aber viele Hinweise, dass sich die Stigmatisierung nicht mehr so extrem darstellt wie in der Vergangenheit.

Wir sehen die gewachsene Inanspruchnahme von Psychotherapie als einen Hinweis, dass die Stigmatisierung nicht mehr so ausgeprägt ist wie vor 20 Jahren.

…der Zugang zur Psychotherapie ist also niedrigschwelliger geworden?

Munz: Ja, die Inanspruchnahme verändert sich. Vor allem ältere Menschen kurz vor dem Rentenalter nehmen im Vergleich zu früher Psychotherapie häufiger in Anspruch, weil weniger Angst besteht, dadurch stigmatisiert zu werden.

Wo ist denn der stärkere Aufwuchs? Bei jüngeren oder bei älteren Menschen?

Munz: Was ältere Menschen und Bewohner von Heimen sowie Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen angeht, die sehr oft auch von psychischen Erkrankungen begleitet werden, ist sicherlich noch viel Aufklärungsarbeit erforderlich.

Hier müssten vor allem die Hausärzte dafür sensibilisiert werden, dass auch die psychische Erkrankung mit behandelt werden muss. Da sehen wir ein Defizit.

Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass die psychischen Belastungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zunehmen und dass hier ein größerer Behandlungsbedarf besteht. Junge Menschen haben jedoch weniger Ängste, einen Psychotherapeuten aufzusuchen.

Es gibt also Nachholbedarf bei der Zusammenarbeit von Psychotherapeuten und Ärzten?

Munz: Ich denke, dass innerhalb der Medizin insgesamt das Thema psychische Erkrankungen offener diskutiert wird und die Ärzte im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung zwischenzeitlich besser ausgebildet werden. Nach unserer Einschätzung werden allerdings noch viel zu oft nur Psychopharmaka verordnet und zu wenig Psychotherapie.

Arbeitsverdichtung, Stress und prekäre Arbeitsverhältnisse führen zu immer mehr Arbeitsausfällen und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Ist der Stellenwert der Psychotherapie heute schon auf der Höhe mit den durch psychische Belastungen ausgelösten gesellschaftlichen Kosten, die in den Statistiken längst aufscheinen?

Munz: Ich sehe noch Defizite hinsichtlich der Untersuchung von psychischen Belastungen in der Arbeitswelt und hinsichtlich der Maßnahmen, diese zu beheben. Da besteht deutlicher Nachholbedarf, obwohl zwischenzeitlich in den Arbeitsschutzgesetzen auch die psychischen Belastungen und die Notwendigkeit, diese zu vermeiden, ausdrücklich erwähnt werden.

Der zweite Punkt ist, dass Betroffene, wenn sie psychisch belastet sind oder erkranken von den Betriebsärzten deutlicher darauf hingewiesen werden müssten, sich Hilfe zu suchen. In großen Firmen scheint das schon umgesetzt zu sein, oder zumindest in Modellprojekten erprobt zu werden.

Wo wir Defizite sehen, ist in mittelständischen und kleinen Unternehmen. Es fehlt an Aufklärung, dass psychische Belastungen gleich wie körperliche Belastungssituationen behandelt werden müssen.

Die Honorare der Psychotherapeuten sind seit 2009 nur um 2,5 Prozent gestiegen und bleiben damit hinter denen der ärztlichen Professionen zurück. Wird dies dem wachsenden Stellenwert der Psychotherapie gerecht?

Munz: Die Verzögerungstaktik der KBV und innerhalb der KBV ist doch immer wieder deutlich wahrzunehmen. Unsere Leistungen sind zeitgebunden.

Das heißt, wir können unser Leistungsvolumen nicht durch Mehrarbeit in der zur Verfügung stehenden Zeit ausweiten. Von daher besteht dringender Bedarf, dass die Vergütung der Psychotherapie überprüft wird.

Das müsste bedeuten, dass wir in derselben Zeit dasselbe Einkommen erreichen können wie ein durchschnittlicher Arzt.

Das Bundessozialgericht hat angemahnt, dass Nachvergütungen geprüft werden sollen. Darüber muss der Bewertungsausschuss noch entscheiden. Ist es fair, dass die angestrebten Nachvergütungen nur diejenigen erhalten könnten, die geklagt haben?

Munz: Es geht ja nicht nur um diejenigen, die geklagt haben, sondern auch um die, die bei der Kassenärztlichen Vereinigung Beschwerde eingelegt haben.

Bei der ersten Welle der Nachvergütungen im Jahr 2003 handelten die KVen in der Regel großzügig und haben alle bedacht. Ich bin für diese Runde pessimistischer. Wir wissen, dass die KVen dafür keine Rücklagen gebildet haben.

Wie sieht es denn mit dem Nachwuchs aus. Wird der den künftigen Bedarf an Psychotherapie decken können?

Munz: Wir haben bei den Psychotherapeuten genügend Nachwuchs. Wir haben aktuellen Zahlen zufolge knapp 2000 neu approbierte Kolleginnen und Kollegen im Jahr. Und wenn man das hochrechnet, dann kann man davon ausgehen, dass die jetzt über 55- und 60-Jährigen Kollegen in den nächsten 15 Jahren ihre Praxen an junge Kollegen abgeben können.

Ebenso können junge Kollegen im Angestelltenverhältnis in absehbarer Zeit Stellen von zukünftigen Rentnern übernehmen. Das ist ein großer Unterschied zum ärztlichen Nachwuchs.

Es ist wichtig, dass wir keine Nachwuchssorgen haben, daher können wir davon ausgehen, dass wir für die Versorgung psychisch Kranker auch in Zukunft unsere Aufgaben lösen und die Versorgung sicherstellen können.

Wie hoch ist der Frauenanteil bei den nachrückenden Psychotherapeuten?

Munz: Das ist bei uns ähnlich wie bei den Ärzten. Von den jungen Kollegen sind bis zu 90 Prozent Frauen. Wir sehen das unter einem speziellen Aspekt auch mit Sorge, gerade im kinder- und jugendpsychotherapeutischen Bereich, weil es doch hilfreich sein kann, wenn männliche Therapeuten eine Behandlung übernehmen.

Die Kinder werden sonst nur noch von Frauen betreut, im Kindergarten, in der Schule. Überall in diesen Bereichen liegt der Frauenanteil besonders hoch.

Ganz aktuell: Einzel- und Gruppentherapie lassen sich nun auch ambulant kombiniert verordnen. Was wird dadurch möglich für die ambulante Psychotherapie, was verändert sich damit?

Munz: Grundsätzlich kann die Behandlung besser werden. Das betrifft eine ganze Reihe von Patientengruppen, zum Beispiel solche mit Borderline-Störungen und in aller Regel Patienten mit einer schwer ausgeprägten Symptomatik.

Es kann beispielsweise auch bei schweren Essstörungen sinnvoll sein, Einzel- und Gruppentherapie zu kombinieren. Die Gruppentherapie kann sich dann mehr auf die Symptomatik konzentrieren, in der Einzeltherapie können die dahinter liegenden, oft auch sehr schwierigen psychischen Probleme bearbeitet werden.

Das hat sich in den Kliniken in den vergangenen 20 Jahren als sehr nützlich und hilfreich erwiesen. Für uns war das der Anlass zu sagen, dass wir das auch dringend in der ambulanten Psychotherapie brauchen und umsetzen sollten.

Dazu bedurfte es einer Änderung der Psychotherapie-Richtlinie. Die ist auch als Ganzes in Überarbeitung. Was speisen Sie ein in diesen Prozess?

Munz: Bei der Psychotherapie-Richtlinie sehen wir als eines der wichtigsten Probleme die Bewilligungsschritte. Die Bewilligung von Psychotherapie sollte einfacher werden und länger gelten.

Das ist vor allem auch eine Forderung für die Verhaltenstherapie. Auch in der Verhaltenstherapie sind immer wieder langfristige Behandlungen notwendig.

Das heißt, die Stundenkontingente bei schwer verlaufenden Erkrankungen müssen dort aufgestockt werden.

Mit dem Versorgungsstärkungsgesetz ist eine frühe psychotherapeutische Sprechstunde auf den Weg gebracht worden. Was wird die bringen?

Munz: Die Sprechstunde ist eine wichtige Verbesserung für die Versorgung. Jetzt kommt es auf die Umsetzung im GBA an, wie die Sprechstunde ausgestaltet wird. Damit wird ein zeitnaher Zugang zu einer ersten orientierenden Diagnostik und Beratung möglich. So kann vielen Menschen, die Rat und Hilfe suchen, frühzeitig geholfen werden.

Aber: Das Gesetz löst das Problem der Versorgung mit Psychotherapie überhaupt nicht. Im Gegenteil: 4300 psychotherapeutische Sitze sind gefährdet, auch wenn ein Aufkauf erst ab einem Versorgungsgrad ab 140 Prozent möglich sein soll.

Die rasche Beratung und Indikationsstellung ist jetzt möglich, aber einen Behandlungsplatz zu finden, bleibt schwierig. Die Situation könnte sich mit dem Versorgungsstärkungsgesetz sogar verschärfen.

Hier steckt ein Widerspruch im Gesetz. Einerseits soll die Bedarfsplanung überarbeitet werden, andererseits wurde die Nichtwiederbesetzungsregelung verschärft.

 Es gibt Städte wie Freiburg und Tübingen, in denen der Versorgungsgrad bei 500 Prozent und darüber liegt. Gibt es nicht wirklich auch Konzentrationen von Psychotherapeuten, die entzerrt werden sollten?

Munz: Teilweise stimme ich Ihnen zu, dass eine Umverteilung sinnvoll sein könnte. Es gibt bisher aber keine Steuerungsmöglichkeit, die Psychotherapeuten dazu brächte, ihre Praxen aus solchen Zentren weg in das Umland zu verlagern.

Das Problem ist, dass die Bedarfsplanung einen Strickfehler hat. Bei ihrer Einführung 1999 hat man die Bedarfsplanung unter Einbeziehung der neuen Bundesländer vorgenommen. Damit wurde die dortige damals noch schwach ausgebaute Versorgung auf die ganze Bundesrepublik verteilt.

Ich komme aus Baden-Württemberg und weiß sehr wohl um die Probleme in Freiburg, Heidelberg und Tübingen. Ich denke, dass wir dort sehr gut versorgt sind. Aber wir müssen sehen, dass wir in ländlichen Regionen, und extremer sogar noch im Ruhrgebiet, massive Defizite in der Versorgung haben.

Das heißt, die Versorgung muss kleinräumiger geplant werden. Wenn Sie im Kreis Tübingen sich 30 Kilometer von der Kreisstadt entfernen, müssen Sie den Therapeuten wieder suchen.

Da schließt sich eine berufspolitische Frage an. Es wird immer mal wieder eine eigene Vertretung der Psychotherapeuten in, aber auch außerhalb der KBV thematisiert…

Munz: Wir haben als Kammer dazu bisher nicht Stellung bezogen. Wir denken, das muss die Selbstverwaltung innerhalb der KBV regeln.

Meine persönliche Meinung dazu ist, dass eine Zersplitterung innerhalb der KBV nicht sinnvoll ist. Auch nicht zwischen Haus- und Fachärzten. Das stellt eine sehr unglückliche Entwicklung dar.

Ärzte und Psychotherapeuten haben lange Rücken an Rücken gelebt. In jüngerer Zeit belebt sich das Verhältnis, man geht aufeinander zu. Was sind die Gründe dafür?

Munz: Man muss das differenziert sehen. Im Bereich der psychosomatischen Medizin gibt es schon lange eine recht gute Kooperation zwischen Ärzten und Psychotherapeuten.

Das liegt auch daran, dass sie oft gemeinsam ausgebildet werden. In der Verhaltenstherapie ebenso wie in der Psychoanalyse hat die gemeinsame Ausbildung eine lange Tradition.

Spannungen gibt es nicht nur zwischen Psychiatern und Psychotherapeuten, sondern auch zwischen Psychiatern und ärztlichen Psychotherapeuten.

Wir werden teilweise als Konkurrenz erlebt, als fachliche und standespolitische. Das macht die Sache manchmal schwer.

Ich glaube aber, dass die Orientierung an der Versorgung der Patienten und vulnerabler Patientengruppen wie zum Beispiel traumatisierte Flüchtlinge diese Spannungen entschärft.

Es gibt zwischenzeitlich viele Belege, dass Patienten, die bislang klassisch psychiatrisch behandelt wurden, also pharmakologisch, auch psychotherapeutisch behandelt werden sollten. So sagen es die Leitlinien.

Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass so bessere und langfristig stabilere Behandlungsergebnisse erzielt werden können. Hier bietet sich eine konstruktive Zusammenarbeit an.

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