Menschen mit Behinderung
Inklusion in der Klinik heißt vor allem mehr Aufmerksamkeit
Für eine Verbesserung der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, in Praxen und in Kliniken hat der Landkreis Reutlingen eine Inklusionskonferenz ins Leben gerufen. Die stationäre Versorgung von Menschen mit Behinderungen war Thema im Juni. Dabei wurde deutlich: Barrierefreiheit beginnt im Kopf.
Veröffentlicht:REUTLINGEN. "Inklusion bedeutet selbstbestimmte Teilhabe am Gesundheitswesen." Mit diesen Worten eröffnete Norbert Finke, Geschäftsführer der Kreiskliniken Reutlingen, die Inklusionskonferenz "Special Needs" Wie vielfältig die Probleme sind, die dem entgegenstehen, wurde im Laufe des Abends deutlich. Wenig überraschend: Hauptsächlich fehlen Zeit und Geld, um Menschen mit Behinderung einen adäquaten Klinikaufenthalt zu ermöglichen – trotz vieler Bemühungen und Verbesserungen seitens der Träger, Behinderteneinrichtungen und Angehörigen.
Kliniken sind – wie auch Arztpraxen – im Minutenrhythmus getaktete Geschäftsbetriebe. Kommt ein Mensch mit Assistenzbedarf etwa in die Notaufnahme, gerät eingespielte Ablaufroutine schnell ins Schlingern. Ein Beispiel: "Meine 25-jährige Tochter Laura ist mehrfachbehindert. Sie kann nicht reden, sich nicht bewegen und leidet unter einem starken Spasmus", berichtete ihre Mutter Martina Miersch. Im Ernstfall wissen Ärzte und Pflegekräfte dann nicht, wie sie die kleinwüchsige Frau ansprechen sollen, erfahren weder etwas über ihren aktuellen Zustand noch über Vorerkrankungen.
Aufnahme-Assessment eingeführt
"Weil das selbst nach Jahren der Unterbringung in einer Behinderteneinrichtung dort noch ein Thema ist, haben ihre Eltern einen "Laura-Leitfaden" erstellt. In dem mehrseitigen Papier erklären sie, wie die junge Frau kommuniziert oder welche Liegepositionen sie keinesfalls einnehmen darf.
Dr. Sabine Proksch, Pflegedirektorin der Kreiskliniken, lobte diese Initiative von Lauras Eltern als vorbildlich. Proksch hatte vor drei Jahren das Projekt "DiRK" gestartet. Das Kürzel steht für "Demenzsensible Versorgung in den Reutlinger Kliniken", die jedoch nicht nur Demenzpatienten, sondern allen kognitiv beeinträchtigten Patienten zugutekommen soll.
Im Zuge dessen haben die Kliniken ein besonderes Notaufnahme-Assessment eingeführt. Es soll gewährleisten, dass sämtliche Informationen über einen behinderten Patienten direkt auf den Stationen ankommen. Darin stehen Hinweise "wie der Patienten angefasst werden möchte oder wie nicht. Welches Essen passt und welches nicht", erläuterte Proksch. Auch werde immer ein Pflegeexperte für Demenz informiert, wenn sich ein entsprechender Patient ankündigt. Während der Konzeptionsphase des Projekts seien etliche Experten – vom Ernährungsberater über Anästhesisten bis zum Psychologen – angehört worden.
Auf "Special Needs" hat auch das Diakonie-Klinikum Stuttgart reagiert. Know-how holten sich die Pflegedirektorin, Elke Reinfeld, und der Bereichsleiter der Palliativstation Martin Löw beim örtlichen Behindertenzentrum (bhz). Wie in Reutlingen merkten auch die Stuttgarter, dass die Belegschaft verunsichert reagiert, wenn Patienten mit Behinderungen ins Haus kommen. Bei fast 90.000 stationären und ambulanten Fällen pro Jahr hätten nur zehn Patienten kognitive oder körperliche Einschränkungen, so Löw, der auch als Behindertenbeauftragter der Kliniken fungiert. Routine im Umgang mit Behinderten kann bei derart geringen Fallzahlen schwerlich entstehen.
Deshalb hat sich das Diakonie- Klinikum eine Selbstverpflichtung auferlegt. Das Pflegepersonal absolviert einmal im Jahr eine Tagesschulung durch Bewohner des Behindertenzentrums. Und im Betriebsablauf gibt es Anpassungen. Aufenthalte der Menschen mit Behinderung werden auf die Minute ins System getaktet. Wobei Termintreue oberste Priorität hat, wie Pflegedirektorin Reinfeld verdeutlicht. Zudem kämen die Ärzte zum Patientengespräch ins Krankenzimmer, statt dass, wie üblich, der Patient den Arzt aufsuchen muss.
Ehrenamtliche Unterstützung
In Stuttgart wurde ein Förderverein gegründet, der das Programm unterstützt. Denn im Rahmen der Krankenhausvergütung gebe es kein Extrabudget für den höheren Pflegeaufwand, den Menschen mit Behinderung erfordern, betonte auch Friedemann Salzer Geschäftsführer der Reutlinger Kreiskliniken. Dort erhält man Unterstützung von einem ehrenamtlichen Besuchsdienst, den Rebecca Hummel gegründet hat. Die Inklusionsbeauftragte der Stadt Münsingen sorgte dafür, dass derzeit sieben Frauen etwa in Hygiene und Verhalten geschult wurden, und sie koordiniert die Besuchstermine.
Weitere Praxistipps gab Sabine Proksch: So beging die Pflegedirektorin mit speziell ausgebildeten Architekten Häuser des Reutlinger Klinikums. Dabei wurde etwa festgestellt, dass die Türen der Krankenzimmer in Wandfarbe gestrichen waren. Ein Fehler, denn kognitiv eingeschränkte Menschen finden dann ihre Zimmer nicht mehr. Stattdessen liefen sie in Nebenräume, die in Signalfarben lackiert waren. Zur besseren Orientierung hängen inzwischen auch große Uhren und Kalender in den Zimmern, so Proksch. Und auch beim Geschirr gab es ein Update. Statt weißer Teller auf grauem Tablett, kommt das Essen heute auf Tellern mit rotem Rand. "Dann wird es gefunden und gegessen", so die Pflegeexpertin. Auch bei älteren Patienten, die nicht mehr gut sehen, komme die Farbgebung gut an.
Modellprojekt Inklusionskonferenz
» Der Landkreis Reutlingen will mit seinem Modellprojekt "Inklusionskonferenz" erklärtermaßen die Ziele der UN-Behindertenrechts-Konvention auf kommunaler Ebene umsetzen.
» Die Konferenz tagt zwei Mal jährlich, zudem findet einmal jährlich eine themenbezogene öffentliche Veranstaltung statt.
» Bisher wurden sieben landkreisweite Inklusionsprojekte begonnen. So unter anderem zur Barrierefreiheit in den Häusern der Mitgliedsorganisationen, zur Inklusion in Kitas und Schulen oder zur Barrierefreiheit in Arztpraxen und Kliniken.
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