Im Gespräch

Soll man Neugeborene töten dürfen?

"Abtreibung nach der Geburt" - zwei Philosophen haben sich Gedanken gemacht, unter welchen Umständen die Tötung von Neugeborenen erlaubt sein könnte. Der Aufschrei, der ihren Thesen folgte, ließ nicht lange auf sich warten. Doch der Skandal löst vor allem eines aus: Langeweile.

Dr. Robert BublakVon Dr. Robert Bublak Veröffentlicht:
Schützen oder töten? Frage mit Spannweite.

Schützen oder töten? Frage mit Spannweite.

© Rosemarie Gearhart / istockphoto.com

Auch Skandale können langweilen. Um einen solchen Skandal handelt es sich bei dem jüngst veranstalteten Theater rund um eine Veröffentlichung im (J Med Ethics 2012; online 2. März).

Unter dem Titel "Abtreibung nach der Geburt: Warum sollte das Baby leben?" legen die australischen Philosophen Dr. Francesca Minerva und Dr. Alberto Giubilini darin die Gründe dar, unter denen sie die Tötung von Neugeborenen für erlaubt halten.

Diese Gründe sind, kurz gesagt, all jene, unter denen noch während der Schwangerschaft eine Abtreibung statthaft gewesen wäre.

Dazu gehören schwere Behinderungen des Kindes, aber auch die unzumutbare Belastung, die es für die Mutter bedeuten könnte, das Kind aufzuziehen. Damit dürften gesunde Babys getötet werden, wenn ihr Weiterleben der Mutter schaden würde.

Zur Begründung führen Minerva und Giubilini an, ein Neugeborenes sei keine Person im eigentlichen Sinn und sein moralischer Status sei derjenige eines Fetus.

Umbringen, wann immer man es will?

Das Neugeborene könne keinen Wert mit seinem Weiterleben verbinden, wie es eine "tatsächlich existierende" Person tun würde. Nähme man ihm das Leben, würde man ihm daher nicht schaden, da es nicht in der Lage sei, den Unterschied einzusehen.

Die Erlaubnis es zu töten, leitet sich also aus dem unterentwickelten geistigen Zustand des Kindes ab, der das Leben für es selbst (noch) wertlos erscheinen lässt.

Das klingt absurd. Und das ist es auch. Wenn ein menschliches Wesen an einem Tag X geistig zu wenig entwickelt ist, um sein Leben wertzuschätzen, so darf man annehmen, dass es diese Fähigkeit am Tag X + 1 ebenfalls noch nicht besitzt.

Denn ein Tag mehr oder weniger wird in der geistigen Entwicklung, die ja auf der Hirnreifung beruht, nicht derart viel verändern.

Darf man also ein Baby am Tag seiner Geburt umbringen, so auch am Tag danach. Und am folgenden Tag und immer so weiter - in einem Wort: Wann immer man will.

Es gibt aber doch einen ganz einfachen Grund, weshalb man ein Neugeborenes, ein gesundes zumal, nicht töten sollte.

Wer es nämlich täte, würde viele Jahre hinter Gittern verbringen müssen. Totschlag und Mord an Neugeborenen sind zumindest hierzulande gesetzlich eindeutig verboten.

Bekannte Aufgeregtheiten

Das Langweilige an den vermeintlich skandalösen Philosophenthesen sind vor allem die Reaktionen darauf. Abzulesen sind sie an den Schlagzeilen. "Forscher verteidigen Tötung von Neugeborenen", war bei "Welt Online" zu lesen.

Noch haben aber weder, wie man der Zeile entnehmen könnte, die Forscher selbst Neugeborene getötet noch irgendjemand sonst, der sich auf ihre Thesen beriefe.

Der "Focus" unterstellte gar: "Forscher fordern Tötung von Neugeborenen" - das geht klar zu weit, denn selbst die beiden Australier würden wohl zugestehen, das eine oder andere Kind am Leben zu lassen.

Derlei Aufgeregtheiten sind nicht neu. Man kennt sie von den Debatten um die Thesen des - ebenfalls australischen - Philosophen Peter Singer, der sich seinerseits zur Euthanasie von Neugeborenen geäußert hatte, die schwerstbehindert zur Welt kommen.

Oder von den Disputen um den Mainzer Rechtsphilosophen und Ethiker Norbert Hoerster, der ähnliche Positionen wie Singer vertreten hatte. In allen Fällen war der Aufschrei groß und der Untergang der Zivilisation angeblich nahe.

Neugeboren und Philosophen sollen leben

Manche Lebensschützer ließen es nicht mit Gegenargumenten oder Beschimpfungen bewenden, sie drohten Singer und Hoerster damit, sie zu ermorden. Und auch gegen Minerva und Giubilini sollen bereits Morddrohungen laut geworden sein.

Man mag in den Argumenten der australischen Philosophen eine Rechtfertigung krimineller Barbarei erkennen.

Allerdings wird man dann der Frage nicht ausweichen können, weshalb allein in Deutschland Jahr für Jahr mehr als 100.000 Feten ganz legal abgetrieben werden dürfen - die meisten davon, so wird man annehmen müssen, ganz gesund.

Zumindest diesen Verdienst kann man Minerva und Giubilini also zurechnen: ein Gespür für die Willkür geweckt zu haben, die jeder Fristsetzung für eine Abtreibung anhaftet.

Die Zumutung solcher Willkür muss jede Gesellschaft aushalten, die eine Fristenlösung akzeptiert. Ist ein solcher Kompromiss nach langem Ringen gefunden, sollte man ihn nicht ohne Not infrage stellen.

Fazit: Neugeborene sollen leben - und Philosophen, die Unsinn reden, auch.

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Kommentare
Gabriela Aures 08.04.201619:35 Uhr

Der Logik der Verfasser ...

...folgend, dürfte dann jeder Mensch, sofern er/sie durch Unfall, Krankheit oder sonstige Umstände , die bewußte Willensäußerung verliert und seine geistige Entwicklung " zurückgesetzt" wird, getötet werden, denn auch dieser Mensch ist nach der Philosophie der beiden "keine Person im eigentlichen Sinn und sein moralischer Status sei derjenige eines Fetus" ?!

Dipl.-Psych. Wolfgang Trosbach 08.04.201613:59 Uhr

Neugeborene mit "schwerer Behinderung" töten?

Ein Kind von mir kam mit sog. "schwerer Behinderung" auf die Welt. Er lebt unter den besonderen Bedingungen einer Trisomie 21 mit seinen 20 Jahren sehr gerne und glücklich, wir mit ihm und seine Umwelt mit ihm ebenso. Niemand sollte sich anmaßen, niemand sollte behaupten, er wisse, ob, wann und wie ein anderer Mensch mit oder ohne sog. Behinderungen glücklich ist, sich des Lebens freut, welcher Mensch "Wert mit seinem Weiterleben verbindet". Niemand darf davon ableitend über das Lebensrecht anderer entscheiden. Die Würde des Menschen ist nach Grundgesetz unantastbar und diese Würde wohnt jedem Menschen inne. Jeder Neugeborene ist Mensch und steht somit zu meiner Freude unter dem Schutz des Grundgesetzes, auch die Utilitaristen.
Wolfgang Trosbach, Bad Mergentheim

Dr. Wolfgang P. Bayerl 08.04.201613:53 Uhr

zu viel scheinheilige Empörung bei der weltweiten Abtreibungspraxis.

Das zutreffende "Schätzler"-Argument mit dem "Vergeuden" der "Frühstadien" von Kindern ist schwer zu widerlegen.

Mediziner sind dazu da Krankheiten zu behandeln aber auch zu verhüten.
"Umbringen, wann immer man es will?"
scheint mir daher destruktive Polemik.
Die Moral betrifft ja eher das werdende gesunde "Kind" und hier kann man durchaus über einen Zeitpunkt streiten,
da die ganze Gesellschaft durch Krankheit solidarisch betroffen ist.
Wenn bei uns der "Patientenwille" (Mutter) bei jeder Gelegenheit immer so betont wird, es werden ja ganz ohne Krankheit ca. 100.000/a Abtreibungen gemacht, anderenorts noch mehr, sollte das schon eine ernste Diskussion wert sein.
Denn die Krankheitsdiagnose ist nun mal vor der Geburt extrem schwierig,
wir hatten ja bereits die öffentliche Diskussion eines teuren Schadensersatzprozesses wegen "nicht erkanntem" Down-Syndroms in der Schwangerschaft, in dem die Mutter das lebende Kind als unzumutbar einstufte.
Morddrohungen für den Philosophen sind daher nicht angebracht.
Ebenso ist es unangebracht und scheinheilig, den Wunsch auf eigene (gesunde!) Kinder ausgerechnet mit dem Argument des Embryonenschutzes zu behindern.

Dr.Bayerl, Düsseldorf

Dr. Thomas Georg Schätzler 05.03.201218:43 Uhr

Philosophie "down under"?

Bei der menschlichen Reproduktion, beim Fortpflanzungsverhalten, bei Reproduktions- und Sexualmedizin sind m. E. utilitaristisch motivierte oder deterministisch bestimmte philosophische Erwägungen sinnlos. Denn dann käme man wohl auch zu der Frage, mit welcher Berechtigung Männer ihre Ejakulationen ohne reproduktive Funktionserfüllung "vergeuden" und Frauen ihren Fertilitätszyklus mit einer Menstruation "abbrechen", wo es doch so viel Behinderung, Siechtum, Sterben und sinnlosen Tod auf der Welt gäbe? Der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft bleibt, und das ist gut so.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

Prof. Dr. Volker von Loewenich 05.03.201217:57 Uhr

Soll man Neugeborene töten dürfen?

Die hier zitierten australischen Philosoph(inn)en wärmen den Singerschen Präferenz-Utilitarismus auf. Singers Argument war und ist,
Neugeborene hätten bis zum von ihm postulierten Alter von vier Wochen noch keine Präferenzen. Also könne man deren angeblich noch nicht vorhandene Präferenz, leben zu wollen und nicht getötet zu werden, nicht verletzen, da noch nicht vorhanden. So kann nur jemand argumentieren, der keinerlei Erfahrungen mit Neugeborenen hat. Neugeborene wissen sehr genau, was sie wollen und noch genauer, was sie nicht wollen, und können dies auch recht nachdrücklich dartun. Darüber hinaus ist die Singersche Definition der menschlichen Person äußerst fragwürdig: Ist nur der/die Person, der/die Präferenzen hat? Singer baut seine "Praktische Ethik" (deutsche Ausgabe bei Reclam) auf diesem sehr schmalen Axiom auf. Man sollte Peter Singer nicht zu ernst nehmen, ebensowenig seine Epigonen.
Prof. Dr.med. Volker v. Loewenich, Frankfurt a.M.

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