Ethikrat
Zwangsmaßnahmen dürfen nur Ultima ratio sein
Die Anwendung von Zwang steht im Fokus einer aktuellen Stellungnahme des Ethikrats. Credo: Hilfe durch Zwang kommt nur bei Patienten infrage, die nicht mehr freiverantwortlich entscheiden können.
Veröffentlicht:BERLIN. „Wohltätiger Zwang“ gegenüber Patienten stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte dar und ist daher in besonderem Maße rechtlich und ethisch begründungspflichtig. Zwang komme nur als Ultima Ratio in Frage, heißt es in der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats, die am Donnerstag in Berlin vorgestellt worden ist.
Zwang dürfe nur in Situationen angewendet werden, in denen Patienten – der Rat spricht von „Sorgeempfänger“ – in ihrer Selbstbestimmung so stark eingeschränkt sind, dass sie keine freiverantwortliche Entscheidung mehr treffen können.
Der konkrete Umgang mit diesen Problemen und die Praxis der Anwendung von Zwang lösen in der medizinischen Versorgung und in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie in Pflege- und Behindertenheimen immer wieder Diskussionen aus.
"Beharrliche Überzeugungsarbeit" hat Vorrang
In der Konsequenz drängt der Rat in seiner Stellungnahme auf „beharrliche Überzeugungsarbeit“, falls ein Patient erforderliche medizinische Maßnahmen ablehnt. Dagegen sei der freie Wille eines voll selbstbestimmungsfähigen Patienten auch dann zu respektieren, wenn ihm „erhebliche Risiken für Leib und Leben drohen“.
Der Rat gesteht zu, dass die Grenze der fehlenden Freiverantwortlichkeit „in der Praxis schwer zu ziehen ist“. Um so wichtiger sei es, Zwangsmaßnahmen sorgfältig zu dokumentiert und in regelmäßigen Abständen auszuwerten.
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, Professor Arno Deister, begrüßt die Rats-Stellungnahme. „Ich hoffe, dass sie einen Impuls für eine gesellschaftliche Debatte setzen kann, die wir dringend brauchen“, sagte Deister der „Ärzte Zeitung“.
Der Ethikrat stelle zu Recht die zentrale Rolle der Selbstbestimmungsfähigkeit des Patienten heraus. „Dem Patienten diese Fähigkeit wiederzugeben – das ist die zentrale Legitimation für unser Tun‘“, betonte Deister.
Denn legitimierbar hält der Rat nur „weichpaternalistische“ Maßnahmen. Gemeint sind damit solche Handlungen, denen der Patient zustimmen würde, wenn er aktuell zu einer freiverantwortlichen Entscheidung in der Lage wäre.
„Hartpaternalistische“ Zwangsmaßnahmen, mit denen das freiverantwortliche Handeln des Patienten überwunden werden soll, seien dagegen „nicht legitimierbar“. Denn die Freiheitsgrundsätze umfassten auch die „Freiheit zur Krankheit“, so der Ethikrat.
Kein kategorisches Verbot von Zwangsmaßnahmen
Mit Blick auf Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie betont der Rat, Psychiater hielten eine Minimierung von Zwangsbehandlungen für möglich, „nicht aber einen völligen Verzicht darauf“.
Trotz wiederholter Kritik an den Rechtsgrundlagen für Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie lehnt der Rat ein kategorisches Verbot aller Zwangsmaßnahmen ab.
Allerdings warnt er, selbst wenn nach den Maßstäben Außenstehender Zwang als „wohltätig“ eingestuft wird, könne dieser vom Patienten als „traumatisierend“ erlebt werden.
Daher bindet der Rat den Einsatz von Zwang an ein „mehrstufiges Prüfverfahren“. Zudem empfiehlt der Rat, Besuchskommissionen nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen sollten flächendeckend „zu einem effektiven Instrument der Kontrolle von Zwangsmaßnahmen“ ausgebaut werden.
Mit Blick auf die Pflege und Behindertenhilfe moniert der Rat, dass immer noch eine „primär defizitorientierte Sichtweise auf Alter und Behinderung“ existiere – die vorhandenen Ressourcen etwa eines Pflegebedürftigen würden als Folge unterschätzt.
Harsch fällt das Urteil über Fixierungen durch Gurte im Bett oder am Stuhl aus. Für einen Großteil dieser Fälle gebe es „keine plausible ethische Begründung“.
Gleiches gelte für den „vielfach missbräuchlichen“ Einsatz von Psychopharmaka. Der Rat betont hier die Belastung und „Gewissenskonflikte“ professionell Pflegender und stellt fest, der möglichst weitgehende Vermeidung von Zwang könne nicht allein ihre Aufgabe sein.
In einigen Bundesländern bis heute keine Regelungen
Fort- und Weiterbildungen sollten verbindlich sein, um Symptome und Verlauf gerontopsychiatrischer Erkrankungen verstehen und einordnen zu können.
Durch finanzielle oder rechtliche Instrumente lasse sich Zwang nicht aus der Welt schaffen, dies verlange Anstrengungen auf kultureller und gesetzgeberischer Ebene.
Kritisch wird in der Stellungnahme angemerkt, dass die Landesgesetze in einigen Bundesländern bis heute keine Regelungen der Zwangsbehandlung enthalten.
Erst im Juli hatte das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen für die Fixierung zwangsuntergebrachter psychisch Kranker deutlich verschärft. Allenfalls bei einer kurzfristigen Fixierung könne auf eine richterliche Genehmigung verzichtet werden.
Die DGGPN hat dieses Urteil begrüßt und sah ihre Position bestätigt. Professor Arno Deister kommentierte damals, das Urteil schaffe „klare, längst überfällige Regeln, die für alle verbindlich sind. Es kann nicht sein, dass in unserem Land aufgrund von Personalmangel und einer schlechten Infrastruktur nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden können, um auf Zwang zu verzichten. Dem muss sich auch eine moderne und aufgeschlossene Gesellschaft verpflichtet fühlen.“
Wir haben den Beitrag aktualisiert und verlängert am 01.11.2018 um 16:26 Uhr.
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