Buurtzorg

"Wir haben das Modell, das Herr Spahn sucht"

Buurtzorg ist der niederländische Begriff für ein Pflegemodell, das mittlerweile auch in Deutschland Fuß fasst. Pflegebedürftige sollen wieder aktiviert werden, ein Netz aus Nachbarschaft, Freunden und Familie hilft dabei.

Von Katrin Berkenkopf Veröffentlicht:
Kurz vor dem Abheben: Das Team von Buurtzorg in Hörstel (Kreis Steinfurt).

Kurz vor dem Abheben: Das Team von Buurtzorg in Hörstel (Kreis Steinfurt).

© Buurtzorg Deutschland

KÖLN. Eigentlich war dieser Morgen anders geplant. Frau Müller sollte duschen. Doch der alten Dame ist nicht danach, sie wirkt traurig. Die Pflegekraft merkt das sofort, schließlich sieht sie Frau Müller jeden Tag. Sie hakt nach, was ist denn los? Heute vor einem Jahr starb ihr Mann, erzählt die Frau. Statt Dusche gibt es daraufhin eine Tasse Kaffee und ein gemeinsames Gespräch am Küchentisch.

Wenn Udo Janning diese Szene erzählt, ist seine Begeisterung sofort spürbar. "Ich muss vor Ort entscheiden, was jetzt wichtiger ist. Und da ist Trösten genauso viel wert wie Duschen." Für ihn ist dies der Kern von Buurtzorg, dem holländischen Pflegemodell, das Patienten ihre Würde und den Pflegekräften ihre Eigenverantwortlichkeit und den Spaß an der Arbeit wiedergeben soll. Es könnte auch die Pflege in Deutschland retten, davon zeigen sich zumindest die Beteiligten des Modellprojektes im Münsterland überzeugt.

"Ich glaube, wir haben die Lösung, die Herr Spahn sucht", sagt Johannes Technau. Er war Geschäftsführer des Netzwerks Gesundheitswirtschaft Münsterland, als das Projekt Buurtzorg Gestalt annahm. Mittlerweile arbeitet er als Geschäftsführer für Buurtzorg Deutschland in Münster.

Gesundheitswirtschaft Münsterland hat die Multiplikatorenrolle übernommen, Fördermittel eingeworben und eine Anschubfinanzierung für die notwendige IT geleistet. Vor zwei Jahren brachte die Wirtschaftsförderung Steinfurt mit einer Präsentation zur Pflege nach Buurtzorg den Stein ins Rollen.

Schwierige Suche nach Mitstreitern

"Das passte damals genau in unsere unternehmensinterne Diskussion", erinnert sich Janning, Projektleiter beim ambulanten Pflegedienst Sander Pflege. Gemeinsam mit dem Pflegedienst Impulse setzt Sander Pflege das Projekt in die Praxis um. "Es ist uns einfach nicht mehr gelungen, Mitarbeiter für die Altenpflege zu begeistern. Man kann den Lohn erhöhen oder ein Auto stellen, aber das Problem sind die Rahmenbedingungen."

Nach Besuchen und Hospitationen in Holland wuchs bei den Initiatoren die Begeisterung und der Wille, dies als Modellprojekt im Münsterland umzusetzen. Doch schon bei der Suche nach Pflegekräften, die mitmachen wollten, gab es einen Dämpfer. "Es hat sich keiner gemeldet. Die haben einfach gar keinen Kopf mehr für neue Sachen", berichtet Janning.

Am Ende aber standen zwei kleine Teams, die vor rund einem Jahr mit der Arbeit loslegten. Mittlerweile sind es drei, ein Viertes steht in Münster in den Startlöchern. Die Teams organisieren sich eigenverantwortlich, entscheiden selbst, wer wann welche Patienten besucht und was dort zu tun ist.

Auch ob sie ein Büro vor Ort brauchen, um sich zu treffen und das erforderliche Nachbarschafts-Netz zu weben, bleibt dem jeweiligen Team überlassen. "Wer so etwas umsetzen will, muss einen gehörigen Vertrauensvorschuss für die Mitarbeiter haben", sagt Buurtzorg-Geschäftsführer Technau. "Und natürlich ist das nicht für jede Pflegekraft das Geeignete."

Eigenmotivation ist wichtig

Aber auch nicht für jeden Patienten. Manche alten oder kranken Menschen und ihre Familien hätten eine "Vollkaskomentalität" entwickelt, meint Projektleiter Janning, und schiebt diese auf das Pflegegeld. Diese Menschen wollten nicht mehr aktiviert und involviert werden.

Doch das ist für erfolgreiche Pflege nach Buurtzorg notwendig. "Da wird immer geschaut, wer kann welche Aufgaben übernehmen. Und wenn sich einmal keiner findet, der sonntags mit dem Opa in die Messe fährt, übernimmt das auch einmal die Pflegekraft." Für die beteiligten Familien sei dies oft erst ungewohnt, das Modell biete aber viele Vorteile.

Wenn sich etwa Verwandte bereit erklärten, am Wochenende das Waschen und Anziehen zu übernehmen, muss die Pflegekraft nicht schon frühmorgens im Haushalt erscheinen und womöglich damit andere Familienmitglieder wecken. Das alles handeln die Beteiligten individuell untereinander aus. Das Vertrauen in die eigenständige Arbeit der Mitarbeiter habe sich voll ausgezahlt, meint Janning. "Das sind schließlich erfahrene Fachkräfte. Die hatten nur verlernt, selbst Entscheidungen zu treffen."

Bei dieser Vorgehensweise ist klar, dass die herkömmliche Abrechnungsweise für Pflegeleistungen bei Buurtzorg nicht funktioniert. Abgerechnet wird hier nach Stunden. Dokumentiert werden alle Leistungen auf dem Tablet, das jede Pflegekraft immer mit sich führt. Damit kann auch der Hausarzt jederzeit sehen, wie es dem Patienten geht. "Gegenüber den Krankenkassen steht da aber einfach: 30 Minuten bei Frau Müller", erklärt Janning. Tatsächlich haben sich die gesetzlichen Kassen versuchsweise darauf eingelassen, mit den Buurtzorg-Teams Stundensätze abzurechnen.

Im Moment ist der ausgehandelte Stundenvergütungssatz niedrig angesetzt, die teilnehmenden Pflegedienste arbeiten defizitär. Da die SGB V-Leistungen noch hinzukommen, wird sich der Satz aber noch erhöhen.

Zusätzlich haben die Kassen signalisiert, dass sie zeitnah zu Nachbesserungen bereit sind, wenn die Pilotprojektphase angelaufen ist, so Janning. Offiziell hat die dreijährige Modellphase noch gar nicht begonnen, die dann auch wissenschaftlich begleitet wird. Bis dahin soll das Thema Abrechnung durch sein. "Am Ende müssen wir zeigen, dass es günstiger wird und die Patienten selbstständiger werden."

  • Das niederländische Wort Buurtzorg bedeutet Nachbarschaftshilfe. Das ist der Kerngedanke des neuen Pflegemodells: Der Patient soll so weit wie möglich wieder selbst aktiviert werden und das mit Hilfe eines möglichst großen Netzwerks aus Familie, Freunden und Nachbarschaft.
  • Entwickelt hat die Idee Jos de Blok, der selbst lange als Pfleger in den Niederlanden gearbeitet hat. 2007 ging er damit an den Start, heute arbeiten mehr als 10.000 Pflegekräfte für das nicht-kommerzielle Unternehmen mit den Namen Buurtzorg.
  • Sie organisieren sich und ihre Arbeit eigenverantwortlich in kleinen Teams. Abgerechnet werden nicht einzelne Leistungen, sondern der zeitliche Einsatz. Das Modell Buurtzorg hat die Organisation mittlerweile in 24 Länder exportiert. (kab)
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