Ungewöhnlicher Plan
Pflegeschule in Vietnam zur Fachkräftesicherung in Deutschland?
Ein Betriebswirtschaftsprofessor schlägt die systematische Rekrutierung von Pflegekräften im Ausland vor – durch den Aufbau einer staatlichen Pflegefachschule vor Ort. Das soll den deutschen Pflegearbeitsmarkt entspannen.
Veröffentlicht:JENA/BERLIN. Das vom Bundeskabinett am 1. August beschlossene Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG), das unter anderem den Weg zur Einstellung von 13.000 zusätzlichen Pflegefachkräften in Deutschland ebnen soll, wird keine Langfristwirkung entfalten. Dieser Ansicht ist zumindest Professor Klaus Watzka vom Fachbereich Betriebswirtschaft der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.
"Rein politisch kann man die Maßnahmen sicherlich auch sehr gut verkaufen. Aber sobald man sich der praktischen Umsetzung widmet, landet man schnell bei der Frage, wie man die erforderlichen zusätzlichen Pflegekräfte rekrutieren kann", merkt Watzka in seinem aktuell veröffentlichten Diskussionspapier an, in dem er eine kritische Situationsbewertung zum Mangel an Fachkräften im Pflegebereich vornimmt.
Watzka will daher zielgerichtet in Drittländern für die Pflege werben und das Personal auch dort für den Einsatz in Deutschland ausbilden – und zwar an einer speziellen Pflegefachschule in Vietnam mit einer Kapazität von 10.000 Ausbildungsplätzen.
Unattraktive Arbeitsbedingungen
Denn: Angesichts der derzeitigen Mangelsituation in der Pflege bestünden starke Zweifel, ob die angedachten zusätzlichen Stellen adäquat mit entsprechend qualifizierten Bewerbern besetzt werden könnten – auch angesichts der "tendenziell unattraktiven Arbeitsbedingungen". Dazu komme, dass Zukunftsprojektionen für das Jahr 2030 zeigten, dass sich die Pflegekraft-Lücke noch deutlich vergrößern werde.
Auch der Zugriff auf bislang unerschlossene Arbeitskräftepotenziale – in der politischen Diskussion geht es seit Jahren unter anderem immer mal wieder um den Vorschlag, Langzeitarbeitslose für einen Einsatz in der Pflege (zwangs)zu begeistern – werde den Bedarf nicht decken.
Ein weiteres Problem stelle die kontinuierliche Abwanderung der Pflegekräfte in die Industrie dar, die mit wesentlich attraktiveren Konditionen locken könne als Arbeitgeber im angestammten Ausbildungsberuf.
"Langfristig kann die Gesundheits- und Pflegebranche diesen Arbeitsmarktwettbewerb gegen Industriebranchen nicht gewinnen und soll es auch nicht, da ein öffentliches Interesse an der Bezahlbarkeit ihrer Dienstleistung auch für finanzschwächere Bevölkerungsteile besteht", mahnt Watzka.
Lieber Kranken- statt Altenpfleger?
Auch innerhalb der Pflege gibt es Wanderbewegungen – von der Alten- in die Krankenpflege. Denn die Arbeit in der Altenpflege wird auch weiterhin schlechter bezahlt als Einsätze in der Krankenpflege. Altenpfleger erhalten nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) durchschnittlich 19 Prozent weniger Lohn als Krankenpfleger.
"Die soziale Dramatik dieses Problems verbietet eine abwartende Haltung. Bisher beschlossene Maßnahmen sind zu kleinteilig und zu reaktiv angelegt. Es sind kurzfristig Handlungen erforderlich, die einen aktiven Lösungsbeitrag in einer substanziellen Größenordnung leisten", lautet Watzkas Appell zum raschen und tatkräftigen Handeln.
Wie es in Watzkas Diskussionspapier heißt, stammten bereits elf Prozent aller Altenpfleger aus dem Ausland – viele aus den EU-Ländern Polen, Rumänien, Kroatien. Über das gemeinsame Programm "Triple Win" der Bundesagentur für Arbeit und der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) werden auch Pflegekräfte aus Nicht-EU-Staaten rekrutiert und qualifiziert, vornehmlich aus Serbien, Bosnien-Herzegowina, Tunesien und von den Philippinen, da dort ein Überschuss an einschlägigem Personal existiert. Stand Mai 2018 wurden mit dem Programm 1300 Fachkräfte vermittelt.
Sprachkenntnisse als hohe Hürde
"Eine wichtige Hürde stellen die Sprachkenntnisse dar. In der Regel wird für die Altenpflege das Sprachniveau B2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens vorausgesetzt, wobei einzelne Bundesländer bei besonderem Mangel auch B1 akzeptieren", so Watzka – Absolventen dieses Niveaus müssen im eigenen Gebiet Fachdiskussionen sowie spontan und fließend normale Gespräche mit Muttersprachlern ohne größere beidseitige Anstrengungen führen können – zu einem breiten Themenspektrum.
Den perfekten Spracherwerb stellt Watzka bei seinem Modell einer Pflegefachschule im Ausland indes nicht in den Mittelpunkt, da die Deutschkenntnisse auch nach Arbeitsaufnahme in Deutschland vor Ort zum Beispiel durch Online-Kurse verbessert werden könnten.
Konkret setzt er auf einen bilateralen Staatsvertrag, der absichere, dass Deutschland Lehr- und Prüfungsbedingungen vollständig autonom bestimmen und auch auf dem Arbeitsmarkt umfassend anwerbend aktiv werden kann. "Es sollte ein Vertrag auf Augenhöhe sein, der dem Partnerland nicht nur finanzielle Vorteile bringt, sondern bei dem es auch selbst nachhaltig von einem Know-how-Zufluss und/oder Verbesserung der Infrastruktur profitiert. Sonst handelt man sich schnell den Vorwurf der ‚Scheckbuchdiplomatie‘ oder des ‚Neokolonialismus‘ ein.
Keinesfalls dürfen dem Partnerland in zu großem Ausmaß qualifizierte Menschen entzogen werden, die es zur weiteren Entwicklung selbst benötigt", steckt Watzka die Rahmenbedingungen ab. Im Partnerland sollten die Pflegeschüler vor Ort angeworben, nach deutschen Standards ausgebildet und geprüft werden.
Die Absolventen seien vertraglich zu verpflichten, eine festgelegte Anzahl an Jahren – zum Beispiel fünf – in deutschen Pflegeeinrichtungen zu arbeiten. Die Pflegebetriebe können retrograd an den Ausbildungskosten beteiligt werden.
Kriterien für ein Partnerland
- Einwohnerzahl: > 20 Mio. für einen hinreichend breiten Arbeitsmarkt
- Arbeitslosenquote: > 8 % für eine hinreichende Verfügbarkeit nicht gebundener Arbeitskräfte und eine grundsätzliche Offenheit der lokalen Regierung für Rekrutierungsaktivitäten ausländischer Akteure.
- Anteil der Analphabeten: < 25 %, um eine hinreichende Bildungsnähe des Erwerbspersonenpotenzials sicherzustellen.
- Durchschnittsalter der Bevölkerung: < 30 Jahre. Bei einer jüngeren Bevölkerung kann eine höhere Mobilität, Flexibilität, Bildungsmotivation und soziale/ökonomische Aufstiegsmotivation vermutet werden.
- Sozialqualifikationen: In der Kultur des Landes angelegte hohe Wertschätzung des Alters und gut ausgeprägte Dienstleistungsmentalität