Die Pflege drängt auf Eigenständigkeit
Seit Herbst 2009 ist Andreas Westerfellhaus Präsident des Deutschen Pflegerates. Er übt das Ehrenamt mit großer Sachkenntnis und viel Biss aus - auch wenn manches von dem, was er sich für seine Profession vorgenommen hat, noch in weiter Ferne liegt.
Veröffentlicht:BERLIN. Hans-Dietrich Genscher verfügte als Außenminister über ein legendäres Reisepensum.
Es gab sogar eine Anekdote darüber: Treffen sich zwei Flugzeuge über dem Atlantik, in beiden sitzt: Genscher. Andreas Westerfellhaus fliegt zwar nicht wie einst "Genschman" von einem Kontinent zum anderen.
Auf innerdeutscher Achse ist der gelernte Fachkrankenpfleger, der seit gut zwei Jahren dem Deutschen Pflegerat als Präsident vorsteht, aber dennoch ständig.
Ein Ehrenamt ohne Aufwandsentschädigung
So auch an diesem Freitag. Pünktlich um halb sieben in der Früh startet der ICE von Gütersloh aus nach Berlin. Mit an Bord: Andreas Westerfellhaus.
Mehrere Termine stehen in der Hauptstadt auf dem Programm: Erst ein Interview, danach Besprechungen mit den Mitarbeitern, anschließend Sitzungen und abends noch ein Treffen mit Vertretern anderer Gesundheitsberufe.
Andreas Westerfellhaus
Aktuelle Position: Geschäftsführer der Zentralen Akademie für Berufe im Gesundheitswesen GmbH in Gütersloh; seit Oktober 2009 Präsident des Deutschen Pflegerates (DPR) als Bundesarbeitsgemeinschaft der Pflegeorganisationen und des Hebammenwesens, zuvor (2003 bis 2009) Vize-Präsident des DPR; Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Fachkrankenpflege und Funktionsdienste.
Werdegang /Ausbildung: 1973 Ausbildung zum Krankenpfleger;
1979 Ausbildung zum Fachkrankenpfleger für Intensivpflege und Anästhesie; Weiterbildung zum Lehrer für Pflegeberufe und zum Betriebswirt (Fachrichtung Sozialwesen)
Privates: Familie: 55 Jahre, verheiratet, drei Kinder (Zwillinge von 13 Jahren und eine erwachsene Tochter), lebt in Rheda-Wiedenbrück in der Nähe von Gütersloh (Westfalen)
Hobbys: Bergwandern und Campen mit der Familie
Das alles im Ehrenamt, ohne jede Aufwandsentschädigung. Er tue es aus Überzeugung, sagt Westerfellhaus.
Und das nimmt man ihm, der als 18-jähriger - nach einem Einsatz beim Malteser Hilfsdienst - eine dreijährige Ausbildung zum Krankenpfleger startete, auch ab. "Es lohnt sich, für diesen Beruf zu kämpfen."
Denn die Profession Pflege könne weitaus mehr für Patienten und Pflegebedürftige tun, als ihr Politiker und Ärzteschaft zutrauten. Dabei gehe es ihm nicht darum, aus Pflegekräften "Mini-Ärzte" zu machen.
"Wer uns das unterstellt, blockiert nur. Wir wollen lediglich das Potenzial dieser hochkompetenten Berufsgruppe stärker in die Versorgung einbringen."
Ein Hebel dafür könnte die neue Heilkunde-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses sein. Danach können die Krankenkassen ab sofort Modellprojekte auflegen, in denen Pflegekräfte bestimmte ärztliche Aufgaben eigenständig erledigen.
Bei Diabetes-Patienten etwa dürfen sie den Wundzustand beobachten, bei Demenzkranken alters- und krankheitsbedingte Symptome erfassen, die Medikation dokumentieren und Hilfsmittel sowie häusliche Krankenpflege verordnen.
Westerfellhaus nennt das einen "Meilenstein". Wohl wissend, dass es noch lange dauern dürfte, bis aus der Heilkunde-Kompetenz in Pflegehand ein fester Bestandteil der Regelversorgung wird.
Denn zunächst müssen die Kassen die Projekte auflegen. Dann geht das Ganze in die Erprobung und Evaluation. So was braucht Zeit. Westerfellhaus lässt sich davon nicht entmutigen.
"Die Berufsgruppe Pflege wird keine Ruhe geben. Sie drängt weiter auf mehr Eigenständigkeit", sagt er mit kräftiger, schneller werdender Stimme - so als wolle er allen, die Zweifel hegen, sagen: Unterschätzt uns Pflegende, unterschätzt mich mal nicht. Wir meinen es ernst.
Der Pflege-Evergreen: die Berufskammer
Mit solcher Vehemenz hängt sich Westerfellhaus auch beim Evergreen seiner Zunft rein: der Pflegekammer.
Seit Jahren schon löchern die Mitglieder des Pflegerats die Politik mit ihrer "Kardinalforderung", den rund 1,2 Millionen professionell Pflegenden endlich die Möglichkeit zur Selbstverwaltung einzuräumen - so wie Ärzten oder Psychotherapeuten. Passiert ist - bis auf vereinzelte Initiativen auf Landesebene - bislang wenig.
Westerfellhaus zeigt sich unbeeindruckt. "Die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen braucht die Selbstverwaltung, und sie wird sie auch bekommen."
Fachentscheidungen und Entscheidungen über mögliche Fehlleistungen der Pflege dürften nicht länger "Berufsfremden" überlassen bleiben, schickt er zur Begründung hinterher.
Ein Beispiel dafür, sagt Westerfellhaus, dass andere meinten am besten zu wissen, was richtig und was falsch für die Pflegeprofession ist, sei die aktuelle Debatte um die Modernisierung der Berufsanerkennungsrichtlinie der Europäischen Union (EU).
Geplant ist, die Zugangsvoraussetzung für die Ausbildung zu einem Pflegeberuf auf den Abschluss der 12. Klasse anzuheben.
Deutschland würde das betreffen, denn bislang reicht hierzulande die zehnjährige Schulausbildung aus, um Pfleger zu werden.
Der Pflegerat vermag im Ansinnen der EU nichts Schlechtes zu erkennen, im Gegenteil: Die zwölfjährige Schulqualifikation als Voraussetzung würde den Pflegeberuf kräftig aufwerten und nachhaltig unterstreichen, wie professionell es in diesem Berufsfeld inzwischen zugehe, heißt es.
Zwei Hände und das Herz am rechten Fleck
Tatsächlich hat die Pflege noch immer mit dem Stigma zu kämpfen, dass irgendwie jeder dafür qualifiziert sei, so er nur zwei Hände und das Herz am rechten Fleck habe.
Unglücklich mit den EU-Plänen sind dagegen Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Gewerkschaft verdi, Bundesärztekammer und der Verband der privaten Pflegeanbieter bpa.
In einem Schreiben an die zuständigen Mitglieder des Europa-Parlaments machen sie gemeinsam Front gegen die geplante neue Zugangsvoraussetzung. Ihr Argument: Der bestehende Fachkräftemangel würde dadurch "massiv verschärft".
Abgestimmt über diese Position hätten sich die Unterzeichner des Briefes mit dem Pflegerat nicht, sagt Westerfellhaus.
"Und das bringt mich richtig auf die Palme. Es ist einfach empörend und unverständlich, dass Arbeitgeber, Bundesärztekammer und Gewerkschaft anscheinend noch immer nicht mit uns Pflegekräften nach Lösungswegen suchen wollen, sondern dass sie lieber über unsere Köpfe hinweg handeln."
Rückenwind aus den Ländern
Politischen Rückenwind bei seinem Bemühen um die Etablierung einer Pflegekammer spürt Westerfellhaus derzeit aus mehreren Himmelsrichtungen.
In Bayern etwa diskutiere Gesundheitsminister Marcel Huber von der CSU das Thema Pflegekammer "sehr ernsthaft mit allen Beteiligten", auch wenn es im Freistaat in dieser Legislaturperiode wegen des Widerstands des Koalitionspartners FDP "mit der Kammer wohl nichts mehr wird".
Schneller könne sich die Tür zur bundesweit ersten Pflegekammer in Rheinland-Pfalz öffnen. Die dortige Gesundheitsministerin Malu Dreyer (SPD) sei von der Notwendigkeit einer sich selbst verwaltenden Pflege "schon ziemlich überzeugt".
Auch die frisch ins Amt gewählte Dänen-Ampel in Schleswig-Holstein werde wohl bei der Frage nach einer Pflegekammer früher oder später auf Grün springen.
Immerhin hätten zwei die Landesregierung tragenden Parteien - SPD und Grüne - "sehr klare Aussagen im Wahlkampf" dazu gemacht, sagt Westerfellhaus.
Und eines sei sicher: "Wenn das erste Bundesland eine Pflegekammer etabliert, folgen die anderen stande pede".
Viele ballen die Faust in der Tasche
Bis es so weit ist, dürften die Pflegenden ihre Hände aber nicht einfach in den Schoß legen. "Wir müssen uns für unsere Anliegen einsetzen. Sonst erreichen wir nichts", appelliert Westerfellhaus an die Kollegen in Kliniken, Heimen und ambulanten Pflegediensten.
Dort aber hapert es bisweilen mit dem berufspolitischen Engagement. Magere zehn Prozent aller Pflegekräfte in Deutschland sind derzeit in Verbänden aktiv. Der Rest schweigt und ballt die Faust lieber in der Tasche.
Für Westerfellhaus ein unbefriedigender Zustand. "Wir müssen uns zahlreicher zu Wort melden."
Spreche er auf Kongressen über das Thema Berufspolitik, dann kämen hinterher viele der Kollegen zu ihm und erklärten, dass es tatsächlich höchste Eisenbahn sei, den Mund weiter aufzumachen. "Was aber hindert viele dann daran, sich berufspolitisch zu engagieren?"
Andreas Westerfellhaus will auf jeden Fall weiter kräftig mitmischen in der Gesundheits- und Pflegepolitik und der ersten Amtszeit als Ratschef, die nächstes Jahr endet, eine weitere folgen lassen.
"Ich würde es wieder machen", sagt er. Eine Voraussetzung freilich müsse erfüllt sein: "Als Präsident des Pflegerats brauche ich die volle Rückendeckung der ihn tragenden Mitgliedsverbände. Das ist der einzige Honig, mit dem man einem diese Aufgabe versüßt." Sagt er und eilt zum nächsten Termin.