Diskussion auf dem Ärztetag

Steuert die Psychotherapie in die nächste Versorgungskrise?

Über ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland ist von einer psychischen Erkrankung betroffen. Die meisten davon bleiben in der Grundversorgung hängen. Um das zu ändern, braucht es neue Vernetzungsansätze, forderten Experten auf dem Ärztetag.

Rebekka HöhlVon Rebekka Höhl Veröffentlicht:
Gleich drei Gastredner hatte die BÄK zum Schwerpunktthema „Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen“ geladen: Prof. Stephan Zipfel aus Tübingen (v.l.), Prof. Jochen Gensichen aus München und Dr. Iris Hauth aus Berlin.

Gleich drei Gastredner hatte die BÄK zum Schwerpunktthema „Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen“ geladen: Prof. Stephan Zipfel aus Tübingen (v.l.), Prof. Jochen Gensichen aus München und Dr. Iris Hauth aus Berlin.

© Illian

ERFURT. 20 Wochen warten Patienten im Schnitt auf eine psychotherapeutische Behandlung. Das zeigte eine Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) im April dieses Jahres.

Dass diese Versorgungslücke aber nicht nur an den Psychotherapeuten hängen bleibt, machten nun Experten auf dem Deutschen Ärztetag in Erfurt deutlich.

In Deutschland seien jedes Jahr 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen, sagte Gastrednerin Dr. Iris Hauth, Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Alexianer St. Joseph Krankenhauses Berlin Weißensee. "Das entspricht 17,8 Millionen Menschen." Rund ein Fünftel von ihnen würde pro Jahr Kontakt zu einem Leistungserbringer aufnehmen.

Ganz oft sind das zunächst die Grundversorger. Über 61 Prozent der Patienten mit Depression werden etwa in Hausarztpraxen versorgt, machte Professor Jochen Gensichen, Leiter des Institutes für Allgemeinmedizin an der LMU München deutlich. Darunter fast ein Drittel der Patienten mit schwerer Depression.

Vernachlässigte Komorbidität?

Doch nicht nur wegen langer Wartezeiten auf Therapieplätze wird die Versorgung immer öfter von den Hausärzten abgedeckt. Psychische Erkrankungen treten häufig auch als Komorbidität auf, berichtete Professor Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Medizinischen Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Tübingen.

Dies gelte insbesondere für Krebspatienten. Die ansteigende Fünf-Jahres-Überlebensrate bedeute auf der anderen Seite auch, dass Progressionsängste und Ängste vor einem Rückfall zunehmen würden.

"Es ist ein großer Unterschied, ob Sie eine Patientin Ende 30 mit Mammakarzinom und zwei Kindern vor sich haben, oder einen 85-Jähirgen mit einem Kolon-Ca", so Zipfel.

Studien hätten ergeben, dass die Hälfte der Krebspatienten unter einem hohen psychischen Distress leide. Aber nur fünf Prozent der Tumorpatienten würden von einem psychotherapeutischen Facharzt betreut.

"Wir müssen eine bessere Vernetzung der ambulanten, stationären und rehabilitativen Versorgungsangebote schaffen", forderte Zipfel. Dabei sind die Tumorpatienten nur ein Teil der Patienten, die die Grundversorger auffangen.

Rang zwei der AU-Bescheinigungen

Psychische Störungen stehen laut dem Experten aus Tübingen nach den Statistiken der großen Krankenkassen mittlerweile auf Rang zwei der AU-Bescheinigungen. Allein die Krankschreibungen wegen "Überlastung und Erschöpfung" seien von 19,9 Millionen im Jahr 2012 auf 30,5 Millionen im Jahr 2016 gestiegen.

"Das Statistische Bundesamt hat die direkten Krankheitskosten durch psychische Erkrankungen auf rund 40 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt."

Unterstützung können laut Zipfel auch E-Health-Angebote bieten. "Aber bitte nicht als One-fits-all-Lösung", mahnte er. Es sei wichtig darauf zu schauen, was die Patienten wollen und wo E-Health in der Versorgung unterstützend helfe. "Dann aber auch mit einer Überprüfung der Akzeptanz und Wirksamkeit", sagte er.

Er warnte davor, die psychotherapeutische Versorgung nicht "leichtfertig weg zu delegieren". Zipfel: "Es wäre der falsche Ansatz zu sagen, weil wir hier ein Versorgungsproblem haben, machen wir es eben digital."

Case-Management-Programme

Professor Jochen Gensichen plädierte daher auch eher für Case-Management-Programme. In dem Projekt "Moderne Behandlung für psychisch Erkrankte Patienten bei Hausärzten" – kurz PRoMPT – laufe die Unterstützung durch die Medizinischen Fachangestellten (MFA) über eine Monitoring-Liste. Diese umfasse 14 Fragen, die die MFA monatlich mit den Patienten durchgehe.

"Die MFA muss den Arzt nach dem Telefonat informieren", sagte Gensichen. Dadurch wüssten alle drei – Patient, MFA und Arzt, "wo dran sie sind".

Gensichen hatte PRoMPT bereits vor ein paar Jahren gemeinsam mit Kollegen im Rahmen einer Studie evaluiert. Sein Fazit: "Case Management wirkt."

Die Patienten hätten das Gefühl, "es kümmert sich jemand um mich", die MFA hätten mehr Spaß an der Arbeit und das Empfinden, dass sie etwas bewirken könnten und eben nicht nur den ganzen Tag nach "Karteikarten guckten" und der Arzt habe schließlich "mehr Zeit für das Eigentliche", nämlich die Arbeit mit den Patienten und die Krankheitsverläufe besser im Blick.

Aber auch für die Kassen lohne es sich: "Sie sparen etwa einen Monat an Krankheitstagen", so Gensichen.

Gutes Argument für mehr Honorar

Ein gutes Argument für eine Honoraranpassung in der sprechenden Medizin, denn die forderten alle drei Experten. Ebenso wie eine zusätzliche Förderung solcher vernetzter Strukturen und des psychotherapeutischen Nachwuchses. Heute sei nur jeder fünfte Patient mit einer psychischen Erkrankung in Behandlung.

In zehn Jahren könnte es bereits jeder Dritte sein, prognostizierte Dr. Iris Hauth. Dabei hat ihrer Meinung nach die Prävalenz für psychosomatische Erkrankungen in den letzten Jahren gar nicht zugenommen, wohl aber die Inanspruchnahme der niedergelassenen Fachärzte und Psychotherapeuten.

Ganz einfach weil das Bewusstsein für diese Erkrankungen in der Bevölkerung zunehme. Wenn nun aber die Generation der Babyboomer demnächst aus den Praxen aussteige, werde es ein "Riesenproblem in der Firstline-Therapie nach der Psychotherapie-Leitlinie geben", sagte sie.

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