Seltene Erkrankungen

Ältere Menschen mit Seltenen Erkrankungen: Von Medizin und Sozialpolitik allein gelassen

Unter den rund vier Millionen Menschen mit Seltenen Erkrankungen ist eine Gruppe stark benachteiligt: ältere Patienten. Häufig springen noch immer Kinderärzte in ihrer Versorgung ein.

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Bei älteren Patienten mit Seltener Erkrankung ist die Versorgungslücke besonders herausfordernd, denn häufig sind sie multimorbid.

Bei älteren Patienten mit Seltener Erkrankung ist die Versorgungslücke besonders herausfordernd, denn häufig sind sie multimorbid.

© vivi / stock.adobe.com

Berlin. Das medizinische und soziale Versorgungssystem in Deutschland ist im Umgang mit älteren Menschen mit Seltenen Erkrankungen überfordert. Das führe gegenwärtig dazu, dass die Betroffenen selbst das Management ihrer Krankheit samt der Durchsetzung möglicher Ansprüche im Sozialleistungssystem in die Hand nehmen müssen, so die Bundesvorsitzende der Selbsthilfe Entzündliche Neuropathien und Guillain-Barré-Syndrom, Gabi Faust, bei einem von Takeda organisierten Fachgespräch anlässlich des Tages der Seltenen Erkrankungen. Eine der größten Sorgen betroffener Patienten sei es, die Autonomie zu verlieren, vor allem dann, wenn kein Partner mehr vorhanden ist.

Martin Mücke, Professor für Digitale Allgemeinmedizin und Direktor des Zentrums für Seltene Erkrankungen am Uniklinikum Aachen, bestätigt das: Die Studienlage sei nach wie vor defizitär, das Krankheitsspektrum mit inzwischen fast 8.000 identifizierten Krankheiten unüberschaubar – bei einem jährlichen Zuwachs von 150 neuen Krankheiten.

Besonders schlecht sehe es bei der diagnostischen und therapeutischen Expertise für ältere Menschen aus: Leiden sie schon seit ihrer Kindheit an einer Seltenen Erkrankung, so funktioniere häufig die Transition in die Erwachsenenmedizin nicht. Das führe dazu, dass die Betroffenen tatsächlich auch in höherem Alter nicht selten vom spezialisierten Kinderarzt versorgt werden.

Telemedizin und Digitalisierung können Zeit sparen

Schwer zu lösen sei zudem der Umgang mit Multimorbidität: Für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, die gleichzeitig an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Demenz leiden, oder für die Operationen geplant werden müssen, seien keine Versorgungsmodelle vorhanden.

Für die Zukunft sieht Mücke allerdings nicht mehr ganz so schwarz. Die Entwicklung der Telemedizin und der Digitalisierung sowie eine zunehmend leistungsfähigere KI könnten Diagnosestellungen beschleunigen und zur Entwicklung besserer Therapien führen, vor allem aber auch Zeit sparen. Allein die Aufarbeitung einer Patientenakte könne eine Woche beanspruchen – an der Uni Aachen machen das Studenten. Wenn dieser Prozess künftig digitalisiert und mit Hilfe einer KI abgebildet werde, schrumpfe der Zeitbedarf vielleicht auf zehn Minuten.

Zwar sind inzwischen an den Universitäten insgesamt 36 Zentren für Seltene Erkrankungen etabliert, diese arbeiten jedoch nach Mückes Angaben seit mehr als zehn Jahren im „Sprint-Modus“. Erst Ende 2023 sei deren Finanzierung durch die Vereinbarung von Zentrenzuschlägen verbessert worden – das finanziere aber nur 40 Prozent dessen, was eigentlich notwendig sei.

Expertise und Kompetenzen bündeln

Zu einer ähnlichen Beurteilung kommt Dr. Andreas Meusch, der Strategiebeauftragte des Vorstandes der Techniker Krankenkasse. Auch er sieht die Datenlage und Evidenz für die Versorgung der Betroffenen als „unterirdisch“ an. Chancen sieht er jedoch durch die 2023 mit Paragraf 25b SGB V geschaffene Möglichkeit für die Krankenkassen, insbesondere auch zur Erkennung von Seltenen Erkrankungen datengestützte Erhebungen zu nutzen.

Erich Irlstorfer, scheidender Bundestagsabgeordneter und Schirmherr der Fachtagung, empfiehlt dringend allen Beteiligten, in den nächsten Wochen, wenn der Koalitionsvertrag erarbeitet wird, den Kontakt zu den verhandelnden Fachpolitikern zu suchen und das Thema Seltene Erkrankungen in der Agenda für die neue Wahlperiode unterzubringen.

Neben der Stärkung der Selbsthilfe und der Zentren für Seltene Erkrankungen auch durch eine bessere Finanzierung wird eine Reorganisation der Kompetenzen vorgeschlagen: Für die Medizin könnte dies bedeuten, dass ein eigener medizinischer Schwerpunkt „Seltene Erkrankungen“ in der Weiterbildung zum Facharzt angestrebt werden sollte. Ebenso müsse insbesondere die ambulante Pflege um spezifische Kompetenzen erweitert werden. Und dringend notwendig, so Gabi Faust, sei es, die Zuständigkeiten bewilligender (und zuvor oft gutachtender) Stellen im staatlichen Sozialleistungsbetrieb – etwa Medizin Dienste oder Versorgungsämter – in Kompetenzzentren zu bündeln. (HL)

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