Corona und Kinder
Ärzte betonen: Schulschließungen im Herbst lassen sich vermeiden
Das neue Schuljahr beginnt, Impfungen für Kinder gibt es noch nicht und Berichte über Infektionen in Schulklassen häufen sich. Wie soll man mit Corona im Klassenzimmer umgehen? Das war Diskussionsthema unter Medizinern bei einer Veranstaltung.
Veröffentlicht:Neu-Isenburg. Muss das gesellschaftliche Leben erneut eingeschränkt werden, wenn in diesem Herbst die Inzidenz von Infektionen mit SARS-CoV-2 wieder steigt? Diese Frage diskutierten zwei Mediziner bei einer Veranstaltung zum Thema Kinder und COVID-19, die am Montagmorgen vom Science Media Center organisiert wurde.
Der Konsens der beiden Ärzte: Erneute Schulschließungen gilt es unbedingt zu verhindern – und das lässt sich auch bewerkstelligen, wenn die vorhandenen Hygienemaßnahmen, Teststrategien und Impfangebote genutzt werden.
Was ist diesen Herbst anders?
Dr. Berit Lange, Leiterin der Klinischen Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, ordnete die Situation der kommenden Monate ein: Im Gegensatz zum Jahr 2020 gibt es nun eine Impfung, im Vergleich zum letzten Jahr mehr soziale Kontakte zwischen Erwachsenen und in der Folge eine steigende Inzidenz vor allem unter jüngeren Menschen, die oft noch nicht geimpft sind. Auch deshalb, weil es für Unter-12-Jährige noch keine breit zugelassene Vakzine gibt.
Lässt sich daraus schließen, dass mit den vorhandenen Vakzinen nun auch Off-Label-Impfungen an Kindern stattfinden sollten? Dagegen sprach sich Professor Jörg Dötsch, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Universitätsklinik Köln, ganz deutlich aus: Das Problem seien nicht die fehlenden Impfmöglichkeiten für Kinder, sondern die Impfmüdigkeit der Erwachsenen: „Es gibt fast 17 Millionen Erwachsene ohne erste Impfdosis. Dort liegt das Problem. Die Erwachsenen, nicht die Kinder, haben die Pflicht, diejenigen mittels Impfung zu schützen, die sich nicht impfen lassen können.“
Dem pflichtete Lange bei: Das Infektionsgeschehen finde ganz deutlich bei den ungeimpften Erwachsenen statt. Beide Mediziner sprachen eine deutliche Empfehlung nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Über-12-Jährige aus, sich impfen zu lassen.
Wann können sich Kinder impfen lassen?
Wie lange müssen Unter-12-Jährige noch warten, bis es Impfangebote gibt? Dötsch hat die Hoffnung, dass Phase-III-Zulassungsdaten für Vakzinen für Sechs- bis Elfjährige noch diesen Monat, die Zulassungsdaten für Unter-Sechsjährige im Oktober eingereicht werden.
Tatsächlich berichtet auch der Verband forschender Arzneimittelhersteller vfa, dass für die mRNA-Vakzine Comirnaty® des Unternehmens BioNTech entsprechende Zulassungsdaten für Unter-12-Jährige im September beziehungsweise Oktober erwartet werden. Für die Vakzine Spikevax® des Unternehmens Moderna laufe zurzeit eine Phase-II/III-Studie an Kindern im Alter zwischen sechs Monaten und 12 Jahren.
Bei der Vakzine Vaxzevria® des Unternehmens AstraZeneca sei eine Studie zum Einsatz der Impfung bei Kindern aufgrund von seltenen Nebenwirkungen pausiert worden. Und das Unternehmen Janssen plane für diesen Herbst eine Studie mit Jugendlichen sowie eine weitere Studie mit Unter-12-Jährigen.
Nach einer Zulassung müsse dann die Ständige Impfkommission (STIKO) bewerten, ob möglicherweise Gruppen von Kindern mit einem besonders hohen Erkrankungsrisiko vorrangig geimpft werden sollten, erläuterte Dötsch. Ähnlich wie bei Erwachsenen hätten Kinder mit Adipositas und Diabetes ein höheres Risiko, schwere Verläufe von COVID-19 zu erleiden.
Welche Maßnahmen sollen in Schulen gelten?
Zur Frage, welche Regeln für das neue Schuljahr in den Klassen etabliert werden sollten, verwies Lange auf die S3-Leitlinie „Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen“, die flächendeckend stärker umgesetzt werden müsse. Lange verwies hier zum Beispiel auf die Methode der Kohortierung, also der Einteilung von Klassen in Gruppen.
Auch eine Überarbeitung der Quarantäne-Regeln sei in Arbeit, fügte Dötsch hinzu. Es gelte, Infektionsketten früh zu stoppen und in gleichem Maße den Schulunterricht für die anderen Kinder möglichst aufrecht zu erhalten. Auch die Gesundheitsminister der Länder hatten am Montag angekündigt, über künftige Quarantäne-Maßnahmen an Schulen noch einmal beraten zu wollen.
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Lange wies darauf hin, dass für Kinder das Risiko, sich in der Schule bei einer infizierten Person anzustecken, um ein Vielfaches geringer sei als das Risiko, sich im Haushalt zu infizieren. Das Risiko, das Virus über eine Infektion in der Schule in einen Haushalt hinein zu tragen sei also klein.
Dennoch geht die Epidemiologin davon aus, dass Testkonzepte in den Schulen noch bis mindestens Frühjahr 2022 nötig sein werden. Das Infektionsgeschehen in Kindergärten sei bislang noch eher unklar, sagte Lange. Hier habe es in der Vergangenheit auch mehrere Infektionsausbrüche gegeben, möglicherweise sollte es deshalb auch in Kindergärten künftig Teststrategien geben. Diese fehlten aus ihrer Sicht.
Fokus auf Folge-Schäden richten
Da Infektionen unter Kindern oft ohne gravierende Erkrankung an COVID-19 verliefen, sei ab und zu die Überlegung zu vernehmen, Corona-Ansteck-Partys für Kinder zu veranstalten – davor warnte Dötsch scharf: „Jedes einzelne Kind, das deshalb in die Klinik muss oder Erwachsene ohne Impfschutz ansteckt, ist eines zuviel. Alles, was vermeidbar ist, sollte vermieden werden. Eine Corona-Party, genau wie eine Masern-Party, ist aus einer verantwortungsvollen Position heraus in jeder Weise zu unterlassen.“
Dötsch wies außerdem darauf hin, dass psychische Folgeerkrankungen für Kinder ein größeres Problem darstellten als akute COVID-19-Erkrankungen: „Die Zahl der Kinder mit Depressionen, Angststörungen und den Folgeerkrankungen hat sich verdoppelt. Es ist sehr wichtig, einerseits die Durchseuchung von Kindern zu verhindern, aber auch ein gutes und normales soziales Leben für Kinder zu schaffen.“
Sollten Schulschließungen im Herbst wieder Diskussionsgegenstand werden, wies Dötsch neben den psychischen Folgen auf drohende Bildungsdefizite sowie die Fälle von Missbrauch und Vernachlässigung hin, die dadurch möglicherweise übersehen werden.
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Erneuten Schulschließungen erteilte Dötsch eine Abfuhr als „extrem unsolidarisch“. „Die Kinder haben uns geschützt in der Zeit, als es noch keinen Impfstoff gab. Es kann nicht sein, dass Erwachsene alle Freiheiten zurückerhalten möchten und dafür erwägen, die Schulen erneut zu schließen!“
Mit Blick auf den Herbst schloss sich Lange dem an: Sollte die Inzidenz wieder deutlich steigen, sei folgendes nötig: „Die Leitlinien in Gänze ernst zu nehmen, das betrifft Hygiene, Abstand, Masken, Lüften, Kohortierung und Teststrategien. Impfen dort, wo es möglich ist. Und wenn es zu Überlastungen des Gesundheitssystems kommt, müssen Kontaktbeschränkungen bei Ungeimpften überall dort her, wo es nicht die Schulen sind. Erneute Schulschließungen sind die ultima Ratio!“