Dauerschmerzen verändern den Blick

NEU-ISENBURG (eb). Patienten mit chronischen Rücken- oder Schulterschmerzen sehen ihre Umwelt mit anderen Augen als gesunde Menschen - zumindest wenn es um ihre schmerzenden Körperteile geht.

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Darauf deutet die Studie eines interdisziplinären Teams von Wissenschaftlern aus Münster und Jena hin, die in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "PAIN" veröffentlicht ist.

Demnach wirken sich chronische Schmerzen nicht nur auf den Körper der Patienten aus. Sie können auch beeinflussen, wie Patienten die Bewegungen wahrnehmen, die sie bei anderen beobachten: Das Urteilsvermögen verändert sich im Hinblick auf die Bewegungen, die bei ihnen selbst Schmerzen auslösen würden.

Die Wissenschaftler zeigten Probanden mit chronischen Schulter- oder Rückenschmerzen Lichtpunkt-Videos von Personen, die verschiedene Bewegungen ausführten. Bei diesen Übungen wurde die Schulter- oder Rückenpartie der Lichtpunkt-Figuren durch gehobene Gewichte beansprucht.

Studienteilnehmer mussten schätzen, wie schwer die Gewichte waren

Lichtpunkt-Figuren bilden die Bewegungen realer Menschen auf eine abstrakte Weise ab. Dabei wird die Person auf eine Reihe von hellen Punkten auf dunklem Grund reduziert, die beispielsweise Kopf oder Händen entsprechen.

Die Probanden sollten schätzen, wie schwer die Gewichte waren, die die Figuren hoben. Gesunde konnten die unterschiedlich schweren Gewichte bei beiden Übungen auseinanderhalten.

Die Probanden mit Rückenschmerzen konnten die Gewichte bei der "Schulterübung" einschätzen, jedoch nicht bei der "Rückenübung", die für sie schmerzhaft wäre.

Umgekehrt zeigen Probanden mit Schulterschmerzen Probleme bei der Beurteilung der Gewichte bei der "Schulterübung", nicht aber bei der Einschätzung der Gewichte bei der "Rückenübung".

Die Erklärung liegt vermutlich in dem Bereich der Großhirnrinde, dessen Nervenzellen Berührungs- und Schmerzreize verarbeiten: Die Aktivität der Nervenzellen im frontalen und parietalen Cortex unterscheidet sich bei chronischen Schmerzen von den Aktivitätsmustern im Gehirn Gesunder.

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Kommentare
Dr. Walther J. Kirschner 25.05.201211:41 Uhr

Dauerschmerzen am Bewegungssystem - komplexe physisch/psychische Phänomene

Das Studiensetting und die beobachteten Ergebnisse weisen auf unterschiedliche Wahrnehmung körperlicher Belastungen/Überlastungen am muskuloskelettalen System hin, explizit bezogen auf chronische bzw. chronifizierte Schmerzen.

Differenzierend wäre zu hinterfragen, ob und in welcher Weise orthopädische Bewegungs- u. Funktionsmuster (Arbeits bezogen, alltags bezogen, Sport bezogen, Handicap bezogen etc.)untersucht wurden u. welche Ergebnisse sich dabei zeigten.

Orthopäden (u.a.) wissen, daß Patienten auf Belastungen sehr unterschiedlich reagieren können, ohne daß plausible, systematische Belastungsstufen korrelierbar wären - solche Vorgänge demnach nicht ohne weiteres objektivierbar sind bezogen auf orthopädische Befunde. Somit muß die Psyche als zusätzliche Ätiologie berücksichtigt werden.

Dabei sollte allerdings nicht ein systematischer diagnostischer Fehler gemacht werden: entweder ''Alles'' auf die Psyche beziehen (Ätiologie) - entspräche Fehl-Diagnose! - od. umgekehrt pauschal Psyche ''diskriminieren'' (als Ätiologie od. Mit-Ätiologie)- entspräche gfs. ebenfalls einer Fehl-Diagnose (wenn Ätiologie fachlich richtig erkannt wird).

Zugegeben: Natürlich sind Differenzierung u. ätiologisch zutreffende Diagnose oft schwierig, entsprechende diagnostische u. therapeutische Bahnungen ''irritabel''. Chronifizierte Schmerzen sind nur multimodal (differente Maßnahmen) u. oftmals interdisziplinär sinnvoll u. erfolgreich behandelbar - u. meist nur durch sehr erfahrene Therapeuten. Polypragmasien, unspezifische Maßnahmen u. Laienbehandlungen können hierbei ausgeprägt nachhaltig schadhaft für Patienten sein.

Angesichts vieler offener Fragen u. vieler beobachtbarer sachlicher u. fachlicher Irrtümer (Informationsdefizite) sind erheblich mehr qualifizierte u. seriöse Forschungsanstrengungen zukünftig gefragt. Dies schließt ausdrücklich breit angelegte öffentlich geförderte Programme ein. Medizinisch u. gesundheitspolitisch (public health) stehen wir erst (immer noch) an einem bescheidenen Anfang.

Dr. Walther J. Kirschner
FA Orthopädie, Spez. Schmerztherapie et al.

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