INTERVIEW

"Die Stufenversorgung von Patienten mit Diabetes mellitus muß jetzt flächendeckend umgesetzt werden"

Die Versorgung von Diabetikern - das ist jetzt auch bei der 41. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Leipzig eines der zentralen Themen. Mittlerweile hat dazu die Gesellschaft ein Stufenkonzept erarbeitet, wie der Pädiater und Diabetologe Professor Wieland Kiess, Präsident des Leipziger Kongresses, im Gespräch mit Ulrike Maronde von der "Ärzte Zeitung" berichtet hat. "Das muß jetzt flächendeckend umgesetzt werden!" Stufe 1 im Stufenkonzept übernehmen die Hausärzte.

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Ärzte Zeitung: Die Versorgung von Diabetikern ist derzeit ja ein heiß diskutiertes Thema - auch beim Diabetes-Kongreß. Wie schneidet Deutschland hier im Vergleich zu anderen Ländern ab?

Kiess: Die Versorgung der Diabetiker in Deutschland ist besser als ihr Ruf und im internationalen Vergleich hervorragend, Deutschland schneidet hier wirklich gut ab. Bei der Stoffwechseleinstellung, also dem HbA1c, von Kindern mit Typ-1-Diabetes etwa sind die deutschen Zentren führend. Auch der Ausbildungsstand der Ärzte und besonders auch der Diabetesberaterinnen ist dank der DDG-Leitlinien sehr gut. Trotzdem muß die Versorgung weiter verbessert werden. Denn es besteht einerseits eine Unter-, andererseits eine Überversorgung. Wir haben Regionen, besonders im ländlichen Raum, in denen es zu wenig Diabetologen gibt.

Ärzte Zeitung: Wie können die Hausärzte aus Ihrer Sicht zu einer besseren Versorgung der Diabetiker beitragen?

Kiess: Hausärzte spielen bei der Früherkennung eines Diabetes eine wichtige Rolle. Bei einem übergewichtigen Patienten über 50 Jahre sollten sie frühzeitig daran denken, daß er einen Typ-2-Diabetes haben könnte. Leider wird die Diagnose meist erst spät gestellt.

Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit Diabetologen. Ich halte es für richtig, daß ein Hausarzt seinen Diabetes-Patienten, dessen Blutzucker gut eingestellt ist und bei dem es keine Komplikationen gibt, betreut. Bei Problemen, etwa wenn die Zielwerte nicht erreicht werden oder Komplikationen auftreten, sollte aber frühzeitig zum diabetologischen Fachkollegen überwiesen werden.

Ärzte Zeitung: Also eine Art Stufenkonzept ...

Kiess: Ganz genau. Eine Stufenversorgung haben wir in der DDG mittlerweile erarbeitet, und diese muß jetzt auch flächendeckend umgesetzt werden. Nach diesem Konzept übernimmt auf Stufe 1 der Hausarzt bei einem Typ-2-Diabetiker ohne Komplikationen die Kontrolle von Blutdruck und Blutzucker, die Behandlung und Betreuung. Wenn die Therapieziele nicht oder nicht mehr erreicht werden, kommt Stufe 2 - also die Betreuung durch eine Diabetes-Schwerpunktpraxis oder eine Poliklinik. Werden die Therapie-Ziele auch dort nicht mehr erreicht, wird der Patient auf Stufe 3 an ein Diabetes-Zentrum überwiesen. Damit soll eine bessere Versorgung der Patienten erreicht werden. Ziel ist, Folgeerkrankungen des Diabetes und Spätschäden möglichst zu vermeiden.

Ärzte Zeitung: Ein Schwerpunktthema, das Ihnen als Pädiater besonders am Herzen liegt, ist die Behandlung von Kindern mit Diabetes. Worauf führen Sie es zurück, daß immer mehr Kinder und Jugendliche früher an Diabetes erkranken?

Kiess: Ein wesentlicher Faktor hierbei ist außer der genetischen Disposition sicherlich, daß viele Kinder und Jugendliche in Deutschland und anderen westlichen Ländern zu dick oder gar adipös sind. Das betrifft nicht nur den Typ-2-, sondern auch den Typ-1-Diabetes.

Beim Typ-1-Diabetes haben wir das Phänomen - auch als Accelerator-Hypothese bezeichnet -, daß die Kinder in immer jüngerem Alter erkranken. Die Erkrankung entwickelt sich ja meist über mehrere Jahre, bis sie manifest wird, die Insulinproduktion also nicht mehr ausreicht. Wenn ein Kind übergewichtig ist, braucht es im Vergleich zum normalgewichtigen Kind gleichen Alters mehr Insulin. Bei einem schlanken Kind würde das noch produzierte Insulin ausreichen, bei einem dicken jedoch nicht mehr. Folglich wird der Diabetes früher - mittlerweile häufig schon vor dem sechsten Lebensjahr - manifest. Hierzu werden beim Kongreß Ergebnisse einer Studie aus Erlangen mit mehr als 4000 Kindern vorgestellt. Insgesamt ist die Inzidenz des Typ-1-Diabetes bei Kindern in den vergangenen Jahren jedoch nicht gestiegen.

Ärzte Zeitung: Dagegen gibt es immer mehr Jugendliche, die bereits einen Typ-2-Diabetes haben ...

Kiess: Vor 20 Jahren war ein Typ-2-Diabetes bei Jugendlichen noch unbekannt. Das Problem ist in Deutschland allerdings bei weitem nicht so ausgeprägt wie in den USA. In New York etwa haben mittlerweile ebenso viele Jugendliche einen Typ-2- wie einen Typ-1-Diabetes. Bei uns an der Klinik in Leipzig betreuen wir etwa 200 Kinder mit Typ-1- und vier Kinder mit Typ-2-Diabetes. Und das ist auch das Verhältnis (50:1) deutschlandweit. Das zeigt, daß die Zahlen hier noch sehr gering sind.

Trotzdem ist es ein gesundheitsökonomisch relevantes Thema. Denn es bedeutet für die Gesellschaft, daß heute ein paar Tausend Jugendliche, die eigentlich die Gesündesten in der Bevölkerung sein sollten, bereits eine schwere chronische Krankheit haben. Auch die mit Diabetes und besonders der Adipositas assoziierten Erkrankungen treten früher auf.

Übrigens ist bei übergewichtigen Kindern, die wir betreuen, die häufigste Ursache für eine Transaminasenerhöhung eine Fettleber. Die gesamtmedizinische Relevanz der Adipositas zeigt sich auch darin, daß wir bereits Kinder mit Gallensteinen aufgrund einer Hypercholesterinämie haben oder Kinder mit Rücken-, Gelenk- und Kreuzschmerzen, denen ihr Übergewicht im wahrsten Sinne des Wortes weh tut.



ZUR PERSON

Professor Wieland Kiess ist Direktor der Universitäts- und Poliklinik für Kinder und Jugendliche in Leipzig und Präsident der 41. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft, die bis morgen in Leipzig stattfindet. Der Pädiater und Diabetologe ist Vorstandsmitglied am Zentrum für Prävention und Rehabilitation der Uni Leipzig und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für das Neugeborenenscreening. An seiner Klinik werden 200 Kinder mit Typ-1- und mehrere Kinder mit Typ-2-Diabetes betreut.

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