Mikrobe des Jahres

Die Urform des Sehens aus dem Salztümpel

Die Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie hat Halobacterium salinarum zur Mikrobe des Jahres gekürt. Das Urbakterium gewinnt mit Rhodopsinen Energie: Die Pigmente sind Vorläufer unseres Sehsystems.

Veröffentlicht:
Salinen auf Fuerteventura, rot gefärbt durch Halobacterium salinarum.

Salinen auf Fuerteventura, rot gefärbt durch Halobacterium salinarum.

© Dirk Vorderstraße, Museo de la Sal / VAAM

FRANKFURT / MAIN. Vor fast genau hundert Jahren stach der Mykologe und Botaniker Heinrich Klebahn vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Landwirtschaft in Bromberg mit einer Nadel in den verfärbten Belag eines gesalzenen Seefischs. Er übertrug das Material auf einen festen Nährboden – und entdeckte einige Wochen später rote Kolonien eines vermeintlichen Salzbakteriums. Dieser Mikroorganismus heißt heute Halobacterium salinarum und ist gerade von der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie (VAAM) zur Mikrobe des Jahres 2017 gekürt worden. H. salinarum zählt zu den Archaeen, dem Reich von Mikroben. Diese ähneln zwar Bakterien, sind aber tatsächlich enger mit Pflanzen und Tieren verwandt, berichtet die VAAM in einer Mitteilung.

Archaeen sind die Urformen des Lebens. Sie sind häufig an außergewöhnliche Lebensräume angepasst, beispielsweise heiße Quellen, extrem saure Gewässer, Orte ohne Sauerstoff oder – wie H. salinarum – an hohe Salzkonzentrationen. Der Mikroorganismus wächst in Salinen und Salzlaken.

Dank spezieller Kanalproteine in der Zellhülle kann H. salinarum seinen Salzgehalt an die äußeren Bedingungen anpassen. Sogar in Salzkristallen überlebt es hunderte von Jahren. Da die Mikroben rote Farbstoffe enthalten, lassen sie Salzseen und Meersalz-Gewinnungsanlagen rot-violett erscheinen. Die Farbstoffe (Karotinoide) von Halobacterium salinarum reichern sich in der Nahrungskette an: Kleine Salzkrebse fressen die Mikroorganismen, von denen sich wiederum die Flamingos ernähren, sodass sich ihr Federkleid rosarot färbt.

Vorläufer unseres Sehsystems

Bacteriorhodopsin aus Halobacterium nimmt Licht auf und verwandelt es in Energie für den Stoffwechsel der Zellen: Die Farbe des Bacteriorhodopsins wechselt dabei von violett zu gelb. Die Farbstoffe in der Zellmembran von Halobacterium salinarum sind nicht nur für die Rotfärbung verantwortlich, sondern auch für eine besondere Art der Photosynthese, die Licht in für die Zelle verwertbare Energie umwandelt.

Die Entdeckung des dafür wichtigen Bacteriorhodopsins aus H. salinarum gelang dem Biochemiker Dieter Oesterhelt 1971. Das Faszinierende daran: Ein ähnliches Rhodopsin ist in unserem Auge für den Sehvorgang verantwortlich. Die Evolution der molekularen Grundlage unseres Sehsinns hat vermutlich seine Wurzeln in uralten Mikrobenformen.

Lichtschalter für neue Heilmethoden

Nach der Entdeckung des Bacteriorhodopsins von H. salinarum hat sich ein ganz eigenständiges Forschungsfeld entwickelt: die Optogenetik. Rhodopsine werden heute als molekulare "Lichtschalter" eingesetzt, um so das Verhalten von Nervenzellen gezielt zu untersuchen und zu steuern. Erste Erfolge deuten darauf hin, dass neuronale Defekte damit in Zukunft behandelbar sein könnten, beispielsweise Netzhauterkrankungen, Parkinson oder Epilepsie.

Bewegungskünstler in der Salzlake

Doch H. salinarum bietet noch weitere Besonderheiten: Es reguliert seine Zelldichte mithilfe von Gasvesikeln, die mit Luft gefüllt und von einer wasserdichten Proteinhülle umschlossen sind. Wie ein Taucher kann es so in bestimmten Wassertiefen schweben und geeignete Sauerstoff- und Lichtverhältnisse aufsuchen. In diesen Wasserschichten kann es auch umherschwimmen: Dank eines Antriebs mit langen Fortsätzen (Filamenten) schraubt es sich nach dem Prinzip eines Propellers durch die zähe Salzlösung. Die Archaeen haben dafür einen eigenen molekularen Drehmotor "erfunden", der auf ein zelleigenes Signal hin die Drehrichtung und damit die Orientierung der Zelle zufällig ändern kann. (eb/eis)

Jetzt abonnieren
Schlagworte:
Mehr zum Thema

PrEP-Surveillance

So steht es um die PrEP-Versorgung in HIV-Schwerpunktpraxen

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Tipps für die Praxis

So entwickeln Sie Ihre Arztpraxis strategisch weiter

Lesetipps
Bald nicht nur im Test oder in Showpraxen: Auf einem Bildschirm in der E-Health-Showpraxis der KV Berlin ist eine ePA dargestellt (Archivbild). Nun soll sie bald überall zu sehen sein auf den Bildschirmen in Praxen in ganz Deutschland.

© Jens Kalaene / picture alliance / dpa

Leitartikel

Bundesweiter ePA-Roll-out: Reif für die E-Patientenakte für alle

Husten und symbolische Amplitude, die die Lautstärke darstellt.

© Michaela Illian

S2k-Leitlinie

Husten – was tun, wenn er bleibt?

Die Ärzte Zeitung hat jetzt auch einen WhatsApp-Kanal.

© prima91 / stock.adobe.com

News per Messenger

Neu: WhatsApp-Kanal der Ärzte Zeitung