Hypoglykämiegefahr am Steuer

Straßenverkehr: Geschickt Lenken mit Diabetes

Gut eingestellte und geschulte Menschen mit Diabetes mellitus dürfen Auto fahren. Doch Hypoglykämien sind ein Risiko, besonders wenn Fahrerinnen und Fahrer sie nicht bemerken. Sich in der Fahrsituation allein auf die Technik zu verlassen, ist keine gute Idee.

Dr. Bianca BachVon Dr. Bianca Bach Veröffentlicht:
Auch Menschen mit Diabetes wollen am Straßenverkehr teilnehmen. Das Problem: Hypoglykämien, die nicht erkannt werden.

Auch Menschen mit Diabetes wollen am Straßenverkehr teilnehmen. Das Problem: Hypoglykämien, die nicht erkannt werden.

© Eddie Cloud / stock.adobe.com

Neben Komorbiditäten und Folgeschäden, wie Herzerkrankungen oder Retinopathie stehen der Fahrtüchtigkeit von Menschen mit Diabetes mellitus (DM) vor allem Hypoglykämien im Wege. Sie können Kontrollverlust und Verhaltensstörungen bewirken, das Bewusstsein mindern, in Unfälle münden.

Wer sie nicht wahrnimmt oder in den letzten zwölf Monaten im Wachzustand mehr als einmal unterzuckert und dabei auf Fremdhilfe angewiesen war, darf in Deutschland kein Fahrzeug führen. Für Gruppe 2 – etwa Busse und Lastkraftwagen – sind die Regelungen strenger.

Wer sich mit DM hinters Steuer setzt, muss stabil eingestellt sein und sich mit seinem Blutzucker (BZ) gut auskennen. „Unsere Verantwortung ist, die Patienten über ihre Verantwortung aufzuklären“, sagte Professor Pratik Choudhary, Universität Leicester, Vereinigtes Königreich beim diesjährigen ATTD-Kongress (Advanced Technologies & Treatments for Diabetes) in Amsterdam. Muss er ein Fahrverbot aussprechen, hat er zwei Botschaften:

  1. „Das Gesetz sagt, Sie dürfen nicht fahren“.
  2. „Mein Job ist, dafür zu sorgen, dass Sie keine Hypoglykämien mehr bekommen, und Ihnen die richtige Behandlung zu geben, die richtige Technologie, und Sie so schnell wie möglich wieder auf die Straße zu bringen“.

Der Diabetologe, der im Vereinigten Königreich auch das Staatssekretariat für Transport berät, weiß, dass solche Gespräche nicht einfach sind. Viele Menschen sind auf das Auto angewiesen: „Auto fahren ist ein wirklich wichtiger Teil des Alltagslebens“.

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Risikoverhalten überholt krankheitsbedingtes Risiko

Wie viele Unfälle auf DM respektive Unterzuckerungen zurückgehen, ist unklar. Unfallstatistiken kategorisieren grob und vieldeutig. Laut Statistischem Bundesamt waren 2023 1,71 Prozent von 291.890 Verkehrsunfällen mit Personenschäden zumindest teilweise auf „sonstige körperliche oder geistige Mängel“ und 0,65 Prozent auf „Übermüdung“ zurückzuführen.

Im Vereinigten Königreich waren 2023 35 Prozent der Verletztenzahlen Folge von „Ablenkung oder Beeinträchtigung“. Mancher mag geneigt sein, eher Mobiltelefone zu verdächtigen, Alkohol, andere Drogen, andere Erkrankungen. Geschwindigkeit, Verhalten und geringe Fahrerfahrung zogen jedenfalls eindeutig an dieser Kategorie vorbei.

Wer meint, alle Menschen mit DM von der Straße fernhalten zu müssen, müsste wohl auch kollektiv junge Männer aus dem Verkehr ziehen. Choudhary: „Das Risiko, einen Unfall zu haben, wenn Sie ein Mann unter 21 Jahren sind, ist mehr als dreimal höher als das, wenn Sie Diabetes haben“.

Nebelfahrt durch nationale Regelungen

Nationale Regelungen variieren und sind oft vage – wie ein aktuelles Statement der ADA (American Diabetes Association) (Diabetes Care 2024; 47(11):1889-1896).

Choudhary: „Es gibt keine klare Anleitung, wer Auto fahren sollte und wer nicht“. Was genau unter „sicherem Fahren“ zu verstehen sei, auf welche Techniken zurückzugreifen sei, etwa um den BZ vor der Fahrt auf ≥ 5 mmol/l (90 mg/dl) anzuheben, werde nicht ausgeführt. „Das wird alles der individuellen Interaktion zwischen dem Behandelnden und der Person mit Diabetes überlassen“, so Choudhary.

Die in Überarbeitung befindliche deutsche S2e-Leitlinie von 2017 „Diabetes und Straßenverkehr“, mit passender Patienten-Leitlinie, fordert ebenfalls ≥ 5 mmol/l, unmittelbar vor Fahrtantritt und unterwegs Kontrollen alle drei Stunden.

Bei einer Hypoglykämie ist die Weiterfahrt nach Kohlenhydrat (KH)-Zufuhr erst bei wieder stabilen BZ-Spiegeln ≥ 5 mmol/l erlaubt. Mindestens zwei Broteinheiten schnell wirksamer KH, wie Traubenzucker oder Fruchtsaft, sind mitzuführen.

Dann heißt es: Mindestens 20 Minuten warten und bis „die geistige Leistungsfähigkeit vollständig wiederhergestellt ist“. Choudhary: „Ich weiß nicht, wie man das testen soll“.

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Nach Vollgas braucht das Hirn eine Pause

Im Vereinigten Königreich gilt nach BZ-Normalisierung eine mindestens 45-minütige Wartezeit. „So lange braucht das Gehirn, um sich wieder bis zum Normalzustand zu erholen“. In einer Studie dauerte es nach Erreichen der Euglykämie noch bis zu 40 Minuten, bis sich die Reaktionszeit normalisierte (Diabetes 2008; 57(3):732-6).

Fahren fordert Hirn und Stoffwechsel einiges ab. Während das Auto Benzin schluckt, verbraucht das Gehirn Glukose. Bei Fahrtsimulationen stellten Forschende schon vor über 20 Jahren fest, dass Menschen mit Typ-1-DM dabei 30 Prozent mehr Glukose verbrauchten als im Ruhezustand (Diabetes Care 2000; 23(2):163-70; Diabetes Metab Res Rev 2002; 18(5):381-5).

Mit sinkendem BZ-Spiegel gaben sie mehr Gas, überfuhren häufiger die Mittellinie und bremsten stärker. Zudem sank die Wahrscheinlichkeit, dass sie aufkommende Hypoglykämien bemerkten und ausglichen, was wohl auch eine Aufmerksamkeitsfrage ist. „Wenn Sie sich darauf konzentrieren, eine Aufgabe zu erledigen, registriert das Gehirn nicht wirklich, dass Sie vom Blutzucker her niedrig sind“, erläutert Choudhary.

Tipps vom britischen Anti-Hypo-Navi

„Wir brauchen Regeln, damit Menschen mit Diabetes, aber auch andere Verkehrsteilnehmer sicher bleiben“, weiß der Diabetologe. Den Briten hält er zugute, dass sie recht konkrete Angaben machen. Dazu gehört:

  • Auch Personen mit Real-Time Continuous Glucose Monitoring (RT-CGM) oder Flash-Glucose Monitoring (FGM) sollten immer BZ-Messgerät und -streifen mit sich führen.
  • Der BZ ist weniger als zwei Stunden vor der Fahrt und alle zwei Stunden unter der Fahrt zu messen, wobei zwischen der Messung vor Fahrtantritt und der ersten danach nicht mehr als zwei Stunden vergehen sollten.
  • Bei erhöhtem Hypoglykämie-Risiko, etwa nach Sport oder bei geänderter Mahlzeiten-Routine, ist engmaschiger zu messen.

Die Zwei-Stunden-Regel erklärte Choudhary so: „Jedes Mal, wenn Sie Ihren Zucker messen, ist das wie ein Parkticket. Und das gilt zwei Stunden. Wenn Sie die zwei Stunden überschreiten, ist das illegal“. Entscheidend ist: „Wenn Ihre Glukose 5 mmol/l oder niedriger ist, essen Sie einen Snack. Wenn es weniger als 4 mmol/l sind oder Sie sich unterzuckert fühlen, fahren Sie nicht Auto“.

Wer unterwegs unterzuckert, soll sicher anhalten, den Motor abschalten, den Schlüssel abziehen und den Fahrersitz verlassen. „Wenn sie mit dem Zündschlüssel im Schloss eine Hypoglykämie haben, sind Sie in Kontrolle eines Fahrzeugs, während Sie unter Medikamenteneinfluss stehen.“

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„GOLD“-Standard besserer Wegweiser als CGM-Daten

Der GOLD-Score erlaubt, das Hypoglykämie-Risiko blitzschnell mit nur einer Frage einzuschätzen: „Merken Sie den Beginn einer Hypoglykämie?“. Antwortet der Patient auf der Skala von 1 („immer“) bis 7 („nie“) mit ≥ 4, weist das auf eine gestörte Hypoglykämie-Wahrnehmung hin. Mit steigendem GOLD-Score kommen schwere Hypoglykämien vermehrt vor.

Die Time Below Range (TBR) bei der CGM, also die Zeit, in der der BZ unterhalb des Zielbereichs ist, ist als alleiniges Risiko-Screening-Tool nicht so gut, kann den Goldstandard GOLD aber ergänzen, wenn ein TBR ≤ 4 Prozent als Grenzwert angesetzt wird (Diabetes Care 2025; 48(3):437-443). Risikopersonen sind vor allem die mit hoher TBR und ohne Wahrnehmung.

Physiologische versus technologische Hypo-Wahrnehmung

Inwieweit sich Menschen mit eingeschränkter Hypoglykämie-Wahrnehmung auf CGM-Alarme verlassen dürfen, wird diskutiert. „Es ist derzeit fraglich, ob wir Menschen mit ‚technologischer‘ Wahrnehmung das Fahren erlauben sollten“, erklärte Choudhary.

Er denkt, dass jemand mit „technologischer“ Wahrnehmung via CGM womöglich sicherer sei als jemand, der seine eingeschränkte Wahrnehmung nicht bemerke oder nicht offenlege. CGM reduziere das Risiko schwerer Hypoglykämien um mehr als die Hälfte. Hinzu kommt die Dokumentation: „Wenn Sie einen Zwischenfall haben, während der Zucker niedrig ist, gibt es Belege dafür.“ Das könnte Menschen mit DM abschrecken und veranlassen, sich sicher im Straßenverkehr zu bewegen.

Vielleicht bringen künftig ja CGM-verlinkte Autos die Lösung, die die Fahrer bei Registrierung niedrige BZ-Werte automatisch an einen sicheren Ort leiten (J Diabetes Sci Technol 2010; 4(2):464-9).

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