Grenzwerte abgesenkt

Heftige Kritik an neuer US-Definition der Hypertonie

Über Nacht sind 35 Millionen Amerikaner an Blutdhochdruck erkrankt. Denn: Hypertoniker ist man nach der neuen US-Definition schon ab einem Blutdruck von 130 mmHg. Manche Kardiologen halten die neue Definition für überaus fragwürdig.

Von Veronika Schlimpert Veröffentlicht:
Blutdruckmessung: Bei welchem Wert liegt eine Hypertonie vor?

Blutdruckmessung: Bei welchem Wert liegt eine Hypertonie vor?

© goodluz / fotolia.com

BERLIN. Die im November 2017 von den US-amerikanischen Kardiologie-Gesellschaften geänderte Definition des Bluthochdrucks hat auch in Deutschland eine Debatte ausgelöst. Professor Roland Schmieder vom Uniklinikum Erlangen hält wenig davon, diese Definition auch hierzulande einzuführen. Auf dem Cardio Update 2018 in Berlin übte er Kritik an der neuen US-Definition.

Über Nacht seien 35 Millionen US-Bürger an Bluthochdruck erkrankt. Der Anteil der in den USA lebenden Hypertoniker ist von vormals 32 Prozent mit der alten Definition (= 140 mmHg) auf 45,6 Prozent gestiegen. Man wisse, dass eine solche Kategorisierung die Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigen kann, sagte Schmieder.

Laut der US-Neudefinition liegt bei systolischen Blutdruckwerten zwischen 130 und 139 mmHg oder diastolischen Werten zwischen 80 und 89 mmHg eine Hypertonie Stadium I vor, bei = 140 bzw. = 90 mmHg ist das Stadium II erreicht. Normal ist ein Blutdruck von <120/80 mmHg. Als erhöht gilt bereits ein Wert von 120–129 mmHg systolisch und < 80 mmHg diastolisch.

Wird man in Europa nachziehen?

Auch in Europa und in Deutschland wird über eine Absenkung der Grenzwerte diskutiert. Eine Überarbeitung der europäischen und deutschen Hypertonie-Leitlinien soll in diesem Jahr auf der ESH- und dem ESC-Kongress präsentiert werden.

In den momentan noch gültigen Leitlinien liegt der Grenzwert für eine Hypertonie bei 140/90 mmHg. Ein Praxisblutdruck zwischen 130 und 139 mmHg systolisch und/oder 85 bis 89 mmHg gilt als "hoch normal".

Schmieder würde den Begriff "hoch normal" in der überarbeiteten Version gerne beibehalten. Er signalisiert eine erhöhte Alarmbereitschaft, die die Patienten zu einer Veränderung ihres Lebensstils anregen sollte.

 Denn in Studien nachgewiesen wurde, dass das kardiovaskuläre Risiko ab einem Blutdruck von 115/75 mmHg exponentiell ansteigt. Eine medikamentöse Therapie ist in diesem Blutdruckbereich aber nur bei Menschen mit erhöhtem Risiko wie jene mit bestehenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Nierenerkrankungen in Betracht zu ziehen.

Kaum Folgen für die Medikation

Eine antihypertensive Pharmakotherapie ist allerdings auch nach der neuen US-Definition nicht bei jedem als "Hypertoniker" eingestuften Patienten angezeigt. Bei Werten zwischen 130 und 140 mmHg sollten Medikamente nur zum Einsatz kommen, wenn die Patienten bereits kardiovaskulär erkrankt sind oder ein deutlich erhöhtes Risiko für eine arteriosklerotische Erkrankung aufweisen (10-Jahres-Risiko > 10%).

Ansonsten reichen Lebensstilmaßnahmen. Letztlich müsste also nur etwa jeder zehnte US-Bürger mit einem Blutdruck zwischen 130/80 und 139/89 mmHg medikamentös behandelt werden.

Warum aber so viele Menschen als "krank" betiteln, wenn dies auf therapeutischer Ebene in den meisten Fällen ohne Konsequenz bleibt? Die Leitlinienautoren haben die Hoffnung, damit mehr Menschen zu Lebensstiländerungen motivieren zu können.

Diesen Optimismus teilen nicht alle Experten. So schreiben Professor Franz Messerli und Professor Sripal Bangalore in einem im "Journal of the American Collage" (2018; 71 (2): 119-121) erschienenen Editorial, dass die Absenkung von Grenzwerten momentan in Mode gekommen ist mit dem Ziel, eine Therapie starten zu können, ehe Schaden entstehe. Dies berge die Gefahr, dass dadurch zu viele "unschuldige" Menschen erfasst würden.

Man müsse bedenken, dass der Grenzwert für alle identisch sei, für jung und alt, Diabetiker und Nierenkranke. Nur sehr wenige US-Bürger in einem Alter über 75 Jahren würden demnach überhaupt noch "gesund" sein. Einen gesunden Menschen als "krank" zu bezeichnen, habe aber einen Preis, bemerken die beiden Kardiologen.

Dies führe nachweislich nicht nur zu einem Zuwachs an Krankschreibungen, sondern löse womöglich bei der betroffenen Person Angst und Neurotizismus aus. Die Folge kann eine gesteigerte Sympathikusaktivität sein. Somit könne eine Person, der bewusst wird, dass sie Hochdruck hat, am Ende gar einen höheren Blutdruck haben als zuvor, geben Messerli und Bangalore zu bedenken.

Evidenz für Neudefinition fraglich

Nach Ansicht der beiden Kardiologen ist auch die Evidenz für die US-Neudefinition zu hinterfragen. In der HOPE 3-Studie hat eine Blutdrucksenkung bei Patienten mit einem Blutdruck von im Mittel 138/82 mmHg – also in einem Bereich, der nach der US-Leitlinie nun als "hyperton" gilt – keine präventive Wirkung gehabt.

Andere Studien hätten ebenso vergeblich versucht, den Nutzen einer Blutdrucksenkung bei normotensiven Personen zu belegen. Die einzige Ausnahme davon scheine die SPRINT-Studie zu sein. Deren Ergebnis wird aber u. a. aufgrund der darin angewandten, in der Praxis nicht üblichen Art der Blutdruckmessung heftig kritisiert (Blutdruckzielwert: Wie repräsentativ ist die SPRINT-Studie für die Praxis?).

Schmieder weist darüber hinaus darauf hin, dass es bei der Leitlinie eine Art "intelligenten Interessenskonflikt" geben könnte. Erstautor Paul Whelton war nämlich auch an der Durchführung der SPRINT-Studie beteiligt. Somit habe er vielleicht ein Interesse daran gehabt, die eigens evaluierten Zielwerte in die neue Leitlinie mitaufzunehmen, so Schmieder.

Kritik an Leitlinie auch in den USA

Die US-Neudefinition der Hypertonie hat im Übrigen auch in den USA eine Welle der Kritik ausgelöst.

Die Debatte um das Behandlungsziel ist nach Schmieder aber von der Diskussion um die Definition der Hypertonie abzugrenzen. In den letzten beiden Jahren hat sich in mehreren Metaanalysen gezeigt, dass bei Personen, bei denen eine Behandlung bereits indiziert ist, eine Absenkung des Blutdrucks auf Werte < 130 mmHg prognostisch von Vorteil ist.

In den US-Leitlinien wird deshalb für Patienten mit Begleiterkrankungen wie Herzinsuffizienz, stabiler KHK, Niereninsuffizienz, Diabetes oder einem Alter über 65 Jahren ein Blutdruckzielwert von < 130 mmHg empfohlen.

Ein derart pauschalisiertes Vorgehen hält Schmieder trotzdem für unangebracht. Für Diabetiker etwa ist die Evidenz für den Nutzen einer intensiven Blutdrucksenkung nicht eindeutig geklärt. In einer 2016 publizierten Metaanalyse führte eine Absenkung des Blutdrucks auf unter 130 mmHg bei diesen Patienten sogar zu einer erhöhten Sterblichkeit.

 In der ACCORD-Studie, in der 4700 Menschen mit Diabetes teilgenommen hatten, ging dieses Behandlungsziel mit einer signifikanten Zunahme von Nebenwirkungen einher. Schmieder wie auch Messerli und Bangalore favorisieren deshalb ein individualisiertes Vorgehen.

"Wir können nur hoffen, dass Ärzte angesichts der Fülle an kürzlich erschienenen Leitlinien, weiterhin ihre Patienten behandeln, und nicht nur das mmHg", resümieren sie am Ende ihres Editorials.

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 12.03.201810:58 Uhr

Auch in der Hypertensiologie gilt: Individualisierte Medizin!

Die mit falschen Vorschusslorbeeren “gehypte” SPRINT-Studie arbeitete mit unkritisch-naivem Empirismus. Auf der Grundlage einer praxisfernen, automatisierten und interaktionsfreien Messmethode sollte Bluthochdruck-Patienten ein neuer systolischer RR-Zielwert von 120 mm Hg statt bisher 140 mm Hg vorgeben werden.

Aber ob als Ergebnis der SPRINT-STUDIE generalisierend: “Niedrigere Blutdruckziele auch im hohen Alter sinnvoll”, wie zum Beispiel im Deutschen Ärzteblatt, gelten sollte, ist m. E. eine wissenschaftliche Irreführung (“scientific misconduct”).

Extrem viele Ausschlusskriterien existierten, welche insbesondere die reale Welt unserer ä l t e r e n hypertensiologisch betreuten Patienten gar nicht abbilden konnte. Es gab eine “Holzklasse” von Patienten, die gemäß US-Leitlinien primär nur mit Saluretika mehr recht als schlecht und mit Blutdrucksenkung bis 140/80 mm Hg austherapiert wurden [“Chlorthalidone was encouraged as the primary thiazide-type diuretic”].

Und es gab eine “Luxusklasse”, welche um das Ziel der Blutdrucksenkung bis 120/80 zu erreichen, zusätzlich mit Schleifendiuretika, Betablockern [“loop diuretics (for participants with advanced chronic kidney disease), and beta-adrenergic blockers (for those with coronary artery disease)”] und mit Amlodipin [“amlodipine as the preferred calcium-channel blocker”] behandelt wurde.

Doch damit nicht genug: Zusätzlich wurde der in Deutschland nicht gebräuchliche AT1-Rezeptor-Blocker Azilsartan ggf. in Kombination mit Chlothalidon von TAKEDA® gesponsert: „Azilsartan [Edarbi®] and azilsartan combined with chlorthalidone were donated by Takeda Pharmaceuticals International and Arbor Pharmaceuticals; neither company had any other role in the study.“

Bei US-Leitlinien in der Hypertonie-Behandlung muss man die primäre Saluretika-Monotherapie unter anderem deshalb berücksichtigen, weil bei vielen schwarzen Afroamerikanern die RAS-Blockade im Renin-Angiotensin6-System mit ACE-Hemmern (Angiotensin-Converting-Enzyme) oder AT1-Rezeptor-Blockern zum Teil aus genetischen Gründen nicht funktionieren kann.

Als Erstlinien-Behandlung ist das aber in Europa und Asien wegen Nebenwirkungen und fehlender langfristiger Adhärenz bzw. Compliance nicht umsetzbar.

Diabetiker waren an SPRINT grundsätzlich n i c h t beteiligt. Dafür seien die ACCORD- und ADVANCE-Studien mit Typ-2-Diabetikern zuständig gewesen, behaupten die Autoren und Interpretatoren von SPRINT, welche allerdings bei moderater Blutdrucksenkung mit RR-Werten nur bis 140/90 mmHg und moderatem Typ-2-Diabetes-Management ein günstigeres Outcome im Gegensatz zu SPRINT zeigten. Diese Fakten wurden in der euphorischen National Institutes of Health (NIH) Publikation mit dem Titel: „Landmark NIH study shows intensive blood pressure management may save lives“ nicht mal ansatzweise erwähnt oder ausdiskutiert.

„Lower blood pressure target greatly reduces cardiovascular complications and deaths in older adults: High blood pressure, or hypertension, is a leading risk factor for heart disease, stroke, kidney failure, and other health problems. An estimated 1 in 3 people in the United States has high blood pressure“ ließ eine Fülle wesentlich entscheidender Faktoren, einschließlich Typ-2-Diabetes-Ausschluss, einfach weg.

Für die SPRINT-Studie hatte man zum Beispiel explizit Rollstuhlfahrer, Pflegeheim-, Grad 3-Hypertonie-, therapieresistente Hypertonie-, Schlaganfall- und Diabetespatienten bzw. sogar Orthostase-Syndrome ausgeschlossen. Die Liste der Ausschluss-Positionen umfasst insgesamt 20 Einzelpunkte: Angefangen von fehlender Adhärenz/Compliance, Zustand nach ACS, Myokardinfarkt und PCI bis zu Zystennieren, Glomerulonephritis, Herzinsuffizienz mit linksventrikulärer Ejektionsfraktion kleiner 35 %, zu dickem oder zu dünnem Armumfang, Krebsdiagnose und –therapie innerhalb der letzten 2 Jahre, Alkoholabusus, Umzugsplänen, unbeabsichtigtem Gewichtsverlust von meh

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