Neandertaler-Genom erforscht
Medizin-Nobelpreisträger Pääbo: Der Pionier der Paläogenetik
Der neue Medizin-Nobelpreisträger Professor Svante Pääbo ist Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Seine Arbeiten haben unser Verständnis der Evolutionsgeschichte der modernen Menschen revolutioniert“, lobt die Max-Planck-Gesellschaft.
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Nobelpreisträger Professor Svante Pääbo, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
© Karsten Möbius / Max Planck Gesellschaft
Leipzig. Für seine Pionierleistungen auf dem Gebiet der Paläogenetik wird Professor Svante Pääbo mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2022 ausgezeichnet. Zu seinen bedeutendsten wissenschaftlichen Erfolgen zählt die Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms, berichtet das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig in einer Mitteilung.
„Seine Arbeiten haben unser Verständnis der Evolutionsgeschichte der modernen Menschen revolutioniert“, berichtet Professor Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. So habe er zum Beispiel nachgewiesen, dass Neandertaler und andere ausgestorbene Hominiden einen wesentlichen Beitrag zur Abstammung der heutigen Menschen geleistet haben.
Svante Pääbo studierte an der Universität Uppsala Ägyptologie und Medizin. Als Doktorand – er promovierte in Immunologie – wies er außerdem nach, dass DNA in altägyptischen Mumien überdauern kann, und erlangte so fachlichen Ruhm als Pionier des neuen Forschungsgebietes der Paläogenetik. Paläogenetiker erforschen die Genome altertümlicher Organismen und ziehen daraus Rückschlüsse auf den Verlauf der Evolution.
Ehrung für Evolutionsforscher
Medizin-Nobelpreis für Erkenntnisse zur menschlichen Evolution
Mitochondrien-DNA des Neandertalers
Nach seiner Promotion arbeitete Pääbo im Team des Evolutionsbiologen Allan Wilson an der University of California in Berkeley. Ab 1990 leitete er ein eigenes Labor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1997 wechselte Pääbo als einer von fünf Direktoren an das neu gegründete Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, wo er bis heute tätig ist.
Bereits Mitte der 1990er-Jahre konnten Pääbo und sein Team einen relativ kurzen Bestandteil der Mitochondrien-DNA eines Neandertalers entschlüsseln. Mitochondrien verfügen bekanntlich über eine eigene DNA. Diese DNA der Neandertaler unterschied sich deutlich von dem Erbgut heutiger Menschen. Damit war erwiesen, dass Neandertaler nicht die direkten Vorfahren jetziger Menschen sind.
Da die DNA-Sequenzierungsmethoden Anfang der 2000er-Jahre sehr viel effizienter wurden, begann Pääbo das komplette Genom der Neandertaler zu sequenzieren, das im Zellkern vorhanden ist.
Entschlüsselung war ein gigantisches Puzzle
Die Schwierigkeit dabei: Die Knochen von Neandertalern sind nach Jahrtausenden im Boden von Bakterien und Pilzen derart stark besiedelt, dass bis zu 99,9 Prozent der darin gefundenen DNA von Mikroben stammt. Zudem liegen die geringen Mengen verbliebener Neandertaler-DNA nur in kurzen Bruchstücken vor, die wie ein gigantisches Puzzle zusammengesetzt werden müssen. Viele Wissenschaftler glaubten, diese Aufgabe sei unlösbar.
Pääbos Team ersann jedoch neue Lösungen. So arbeiteten die Forscher unter „Reinraum-Bedingungen“ vergleichbar mit denen in der Chip-Industrie. So konnten sie verhindern, dass sie versehentlich ihre eigene DNA in die Versuche einbrachten.
Darüber hinaus entwickelten sie effizientere Extraktionsmethoden, die die Ausbeute der Neandertaler-DNA verbesserten. Komplexe Computerprogramme, die die DNA-Schnipsel der altertümlichen Knochen mit Referenz-Genomen von Schimpansen und Menschen verglichen, halfen dabei, das Genom der Neandertaler zu rekonstruieren.
Europäer haben zwei Prozent der Neandertaler-DNA
2010 gelang es Svante Pääbo und seinem Team, eine erste Version des Genoms der Neandertaler aus Knochen zu rekonstruieren, die Zehntausende von Jahren alt sind. Die Vergleiche des Neandertaler-Genoms mit den Genomen heutiger Menschen ergaben, dass moderne Menschen und Neandertaler bei ihrem Zusammentreffen vor rund 50.000 Jahren gemeinsamen Nachwuchs gezeugt hatten, als moderne Menschen Afrika verließen und in Europa und Asien ankamen.
Noch heute finden sich deshalb im Genom heutiger nicht-afrikanischer Menschen etwa zwei Prozent Neandertaler-DNA. Dieser genetische Beitrag beeinflusste die menschliche Evolution: Er stärkte beispielsweise das Immunsystem der modernen Menschen, trägt jedoch auch heute noch zur Anfälligkeit für mehrere Krankheiten bei.
Ehrung für Evolutionsforscher
Medizin-Nobelpreis für Erkenntnisse zur menschlichen Evolution
„Neandertaler sind die engsten Verwandten des heutigen Menschen“, wird Svante Pääbo in der Mitteilung zitiert: „Vergleiche ihrer Genome mit denen heutiger Menschen sowie mit denen von Menschenaffen ermöglichen uns, zu bestimmen, wann genetische Veränderungen bei unseren Urahnen eintraten.“
Dabei könnte künftig auch geklärt werden, warum moderne Menschen schließlich eine komplexe Kultur und Technologie entwickelten, die ihnen ermöglichten, fast die ganze Welt zu besiedeln. Dies erforderte jedoch ein vollständigeres Wissen über das Neandertaler-Genom als das Team 2010 erlangt hatte.
Schlüssel zu Genen für kognitive Fähigkeiten?
2014 gelang es dem Team am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, das Neandertaler-Genom fast komplett zu entschlüsseln. Dadurch wurde ein Vergleich mit den Genomen heutiger Menschen möglich. „Wir haben zirka 30.000 Positionen gefunden, in denen sich die Genome von fast allen heutigen Menschen von denen der Neandertaler sowie denen der Menschenaffen unterscheiden“, so Pääbo in der Mitteilung. „Sie beantworten, was anatomisch moderne Menschen auch im genetischen Sinn ‚modern‘ macht.“
Einige dieser genetischen Veränderungen bilden womöglich den Schlüssel zum Verständnis, was die kognitiven Fähigkeiten heutiger Menschen von denen, nun ausgestorbener, Hominiden unterscheidet.
Bereits 2012 war Svante Pääbos Team eine andere Sensation gelungen: Es entschlüsselte das Genom aus einem kleinen Knochen, den es in der Denisova-Höhle im westsibirischen Altai-Gebirge gefunden hatte. Die rätselhaften Ur-Menschen waren entfernt mit den Neandertalern verwandt und steuerten bis zu fünf Prozent zum Genom der heutigen Einwohner von Papua-Neuguinea, der Aborigines Australiens und anderer Gruppen in Ozeanien bei.
Derzeit arbeiten die Forscher an neuen Methoden, DNA-Fragmente zu rekonstruieren, die noch stärker zersetzt und in noch geringeren Mengen vorhanden sind. Ziel ist es, die Erforschung noch älterer DNA zu ermöglichen sowie Erbgut aus Teilen der Welt, in denen das Überdauern der DNA aufgrund von heißem und feuchtem Klima noch seltener ist.
Auch der Vater war Nobelpreisträger
Übrigens: Bereits Svante Pääbos Vater, Sune Bergström, wurde mit der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung geehrt: Der Biochemiker erhielt gemeinsam mit Bengt Ingemar Samuelsson und Sir John Robert Vane 1982 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin für ihre bahnbrechenden Arbeiten über Prostaglandine und naheverwandte biologisch aktive Substanzen. (eb)
Hochdekorierte Forschung
Svante Pääbos wegweisende Forschungen zur Abstammung des Menschen wurden mit zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen gewürdigt. Die wichtigsten Preise hat das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig zusammengestellt. Danach erhielt er unter anderem den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1992).
Es folgten die Max-Delbrück-Medaille (1998), Carus-Medaille und -preis (1999), der Rudbeck-Preis (2000), der Leipziger Wissenschaftspreis (2003), der Ernst-Schering-Preis (2003), der Louis-Jeantet-Preis für Medizin und die Virchow-Medaille (2005), die Darwin-Plakette (2009), die Theodor-Bücher-Medaille (2010) sowie der Newcomb-Cleveland Preis und der Preis für Biochemische Analytik der Deutschen Gesellschaft für Klinische Chemie und Labormedizin (2011).
Darüber hinaus erhielt Pääbo die H.M. The King’s Medal des schwedischen Königs (2012), den Gruber-Preis für Genetik (2013), den Learning Ladder Prize (2014). 2015 wurde Svante Pääbo die Lomonossow-Goldmedaille der Russischen Akademie der Wissenschaften und der Breakthrough Prize in Life Science verliehen, sowie in 2016 der Keio Medical Science Prize.
Erst vor Kurzem erhielt Svante Pääbo den Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft. Die Körber-Stiftung zeichnet seit 1985 jedes Jahr einen wichtigen Durchbruch in den Natur- oder Lebenswissenschaften in Europa aus. Prämiert werden exzellente und innovative Forschungsansätze mit hohem Anwendungspotenzial. Nach Verleihung des Körber-Preises erhielten – mit Svante Pääbo – bislang sieben Preisträgerinnen und Preisträger den Nobelpreis. (eb)