Genregulation

Medizin-Nobelpreis geht an Entdecker der microRNA

Auf „betäubende Stille“ folgt der Nobelpreis für Medizin – so lassen sich die Reaktionen auf die Forschung von Victor Ambros und Gary Ruvkun zusammenfassen. Die US-Amerikaner entdeckten die microRNA und beschrieben deren Rolle bei der Genregulation.

Von Dr. Beate Schumacher Veröffentlicht: | aktualisiert:
Thomas Perlmann, Sekretär der Nobelversammlung, verkündet die Gewinner des Nobelpreises für Medizin 2024

Thomas Perlmann, Sekretär der Nobelversammlung, verkündet die Gewinner des Nobelpreises für Medizin 2024: Victor Ambros (auf der Leinwand links) und Gary Ruvkun.

© Steffen Trumpf / dpa

Stockholm. Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin geht in diesem Jahr an die US-Amerikaner Professor Victor Ambros und Professor Gary Ruvkun für die Entdeckung der microRNA und ihrer Rolle bei der Genregulierung. Das teilte das Karolinska-Institut in Stockholm mit.

Die beiden Forscher hätten ein grundlegendes Prinzip zur Steuerung der Genaktivität entdeckt, hieß es. „Ihre bahnbrechende Entdeckung offenbarte ein völlig neues Prinzip der Genregulierung, das sich als wesentlich für mehrzellige Organismen, einschließlich des Menschen, erwies“, so das Nobelkomitee in seiner Begründung. MicroRNAs erweise sich als grundlegend wichtig für die Entwicklung und Funktion von Organismen.

Zum Hintergrund: Alle Zellen in einem Organismus haben die gleiche genetische Information; unterschiedliche Gewebe mit unterschiedlichen Proteinen mit unterschiedlichen Funktionen können nur entstehen, wenn die Expression der Gene differenziell reguliert wird. Diese Regulation erfolgt zum einem mithilfe von Transkriptionsfaktoren: Sie binden an die DNA im Nukleus und entscheiden darüber, ob ein Gen verstärkt, reduziert oder gar nicht in eine mRNA transkribiert wird.

Community regierte zunächst mit „betäubender Stille“

Lange Zeit ging man davon aus, dass dies der einzige Mechanismus der Genregulation sei. Erst 1993 entdeckten zwei US-amerikanische Forscher, Victor Ambros (derzeit University of Massachusetts Medical School in Worcester) und Gary Ruvkun (Harvard Medical School in Boston), dass eine weitere Regulation auf der Ebene der Translation von mRNA in Protein stattfinden kann, und zwar mittels winziger nichtkodierender RNA. Die Reaktion der wissenschaftlichen Community damals: „betäubende Stille“, wie es in der Pressemeldung des Nobelpreiskomitees heißt.

Ambros und Ruvkun hatten ihre Entdeckung in Caenorhabditis (C.) elegans gemacht und die Regulation der Translation durch mikroRNAs wurde zunächst als ein Spezifikum dieses Fadenwurms betrachtet. Erst sieben Jahre und eine weitere microRNA-Entdeckung von Ruvkun später erkannte die Fachwelt die Bedeutung der Entdeckung – als grundlegendes Regulationsprinzip, auf das alle komplexen Vielzeller angewiesen sind und dessen Störung u. a. zu Krebserkrankungen führen kann.

RNA, die nicht translatiert wird

C. elegans besteht nur aus etwa 1000 Zellen, die aber in verschiedene Gewebe differenziert sind, und ist daher ein beliebtes Objekt für die Erforschung der Gewebeentwicklung. Die beiden Nobelpreisträger hatten sich in ihrer Postdoc-Zeit am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge speziell mit zwei mutierten C.-elegans-Stämmen befasst, lin-4 und lin-14, bei denen die Aktivierung genetischer Programme während der Entwicklung gestört ist. Ambros konnte zeigen, dass das mutierte Gen lin-4 ein negativer Regulator des Gens lin-14 ist, und es gelang ihm, lin-4 zu klonen. Zu seiner Überraschung handelte es sich um ein Gen, das nur für eine kurze RNA (mit 22 Nukleotiden) kodiert und nicht in ein Protein translatiert werden kann.

Die Lösung des Rätsels fand sich im Austausch mit Ruvkun, der inzwischen in einem Labor von Massachusetts General Hospital and Harvard Medical School arbeitete: Ruvkun hatte herausgefunden, dass lin-4 nicht die Produktion der lin14-mRNA, sondern des lin14-Proteins behindert und dass für diese Hemmung ein bestimmter nichttranslatierter Teil der lin14-mRNA erforderlich ist. Ein Sequenzvergleich brachte dann die bahnbrechende Entdeckung: Die lin4-microRNA war komplementär zu dem kritischen Abschnitt in der lin-14-mRNA. Weitere Versuche bestätigten die Vermutung der Forscher: Durch die Bindung der lin4-microRNA an die lin-14-mRNA wurde die Proteinsynthese blockiert. Damit war das völlig neue Prinzip der Genregulation über microRNA erstmals beschrieben.

MikroRNAs sind keine Besonderheit des Fadenwurms

Dass es sich bei dieser Form der Genregulation nicht um eine Besonderheit von C. elegans handelte, wurde aber erst sieben Jahre später klar. Zu dieser Zeit hatte Ruvkun eine weitere microRNA identifiziert, die vom Gen let-7 kodiert wird. Da let-7 ein im gesamten Tierreich hochkonserviertes Gen ist, war das Interesse nun groß. In den folgenden Jahren wurden unzählige weitere microRNAs identifiziert, heute sind beim Menschen über 1000 bekannt. „Jede dieser microRNAs reguliert mehrere mRNAs und jede mRNA wird von mehreren microRNAs reguliert“, erklärte Olle Kämpe, Vizevorsitzender des Nobelpreiskomitees und Endokrinologe am Karolinska-Institut. Er betonte, dass die Genregulation über microRNAs essenziell ist etwa für die Embryonalentwicklung und die normale Zellphysiologie und dass ihre Störung zur Entstehung von Tumoren und anderen Erkrankungen führen kann.

Eine therapeutische Anwendung von microRNAs ist bisher noch nicht möglich. In der Onkologie, aber auch in der Herzkreislauf-Forschung laufen jedoch zahlreiche Studien zum Einsatz von microRNAs. Entsprechende Therapien seien aber noch nicht absehbar, sagte Gunilla Karlsson-Hedestam, Vorsitzende des Komitees und Immunologin am Karolinska-Institut. Eine Anwendung von microRNA wird u. a. dadurch erschwert, dass das Zielgewebe erreicht werden muss und dass eine einzige microRNA die Translation verschiedener mRNAs verändert.

Ein „Physiologie-Nobelpreis“

Die diesjährige Auszeichnung sei definitiv ein „Physiologie-Nobelpreis“, mit dem bedeutsame Grundlagenforschung ausgezeichnet worden sei, erklärte Nobelpreiskomiteemitglied Gunilla Karlsson Hedestam vom Karolinska Institutet in Stockholm mit Blick auf die Praxisrelevanz der prämierten Forschung. Gleichwohl liefen aktuell in verschiedenen Bereichen der Medizin Studien, in denen das therapeutische Potenzial von miRNA untersucht werde, etwa in der Onkologie oder auch in der Kardiologie.

Die bedeutendste Auszeichnung für Mediziner ist wie im Vorjahr mit 11 Millionen schwedischen Kronen (knapp 970.000 Euro) dotiert. Sie geht je zur Hälfte an die beiden Forscher. Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Nobelpreises war übrigens nur Ruvkun über die Ehrung im Bilde. Er habe trotz nachtschlafender Zeit und hörbarer Müdigkeit „sehr enthusiastisch“ reagiert, berichtete Thomas Perlmann, Generalsekretär des Nobelpreis-Komitees. Ambros habe er nur eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen können.

Zuletzt wurden Corona-Forscherinnen geehrt

Im vergangenen Jahr hatten die in Ungarn geborene Biochemikerin Katalin Karikó und der US-Immunologe Drew Weissman den Medizin-Nobelpreis für ihre beharrlichen Vorarbeiten zur Entwicklung sogenannter mRNA-Impfstoffe gegen Corona bekommen. Sie hätten mit ihrer Forschung „zu dem beispiellosen Tempo der Impfstoffentwicklung während einer der größten Bedrohungen für die menschliche Gesundheit in moderner Zeit“ beigetragen, hatte das Karolinska-Institut mitgeteilt. (Mitarbeit: mmb)

Über den Nobel-Preis

Seit 1901 haben 227 Menschen den Medizin-Nobelpreis erhalten, darunter 13 Frauen. Der erste ging an den deutschen Bakteriologen Emil Adolf von Behring für die Entdeckung einer Therapie gegen Diphtherie. 1995 erhielt als erste und bislang einzige deutsche Frau Christiane Nüsslein-Volhard diese Auszeichnung für ihre Arbeit zur genetischen Kontrolle der frühen Embryonalentwicklung.

Mit dem Medizin-Preis startete der Nobelpreis-Reigen. Am Dienstag und Mittwoch werden die Träger des Physik- und des Chemie-Preises benannt. Es folgen die für Literatur und für Frieden. Die Reihe der Bekanntgaben endet am kommenden Montag mit dem von der schwedischen Reichsbank gestifteten sogenannten Wirtschafts-Nobelpreis.

Die feierliche Vergabe aller Auszeichnungen findet traditionsgemäß am 10. Dezember statt, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel. Bereits am vergangenen Donnerstag waren die Träger der diesjährigen Alternativen Nobelpreise von der Right Livelihood Stiftung bekanntgegeben worden. (dpa)

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