Julius und Patapoutian geehrt
Medizin-Nobelpreis für Thermorezeption und Tastsinn
Wie nehmen wir Berührungen und Temperaturen wahr? Dieses Rätsel haben die US-Forscher Professor David Julius und Professor Ardem Patapoutian maßgeblich gelöst. Sie fanden Rezeptoren, die auf Temperaturänderungen und mechanische Reize reagieren. Dafür gab es nun den Medizin-Nobelpreis.
Veröffentlicht: | aktualisiert:Stockholm. Der diesjährige Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ist sicherlich eine Überraschung: Ganz oben auf der Liste sahen viele die beiden Entwickler der mRNA-Technik Professor Katalin Karikó und Professor Drew Weissman – sie hatten den Grundstein für die rasche Entwicklung einer wirksamen COVID-19-Vakzine gelegt. Doch das Nobelpreiskomitee am Karolinska-Institut in Stockholm hatte andere Favoriten: Ausgezeichnet wurden die Entdecker von Rezeptoren für den Tast- und Temperatursinn.
Wie diese beiden Sinne funktionieren, war lange ein Rätsel. Der französische Philosoph René Descartes vermutete Fäden, die von der Haut ins Gehirn reichen. Bei Berührung oder Hitze zieht die Haut an den Fäden, dadurch gelangt das Signal ins Gehirn, so seine Vorstellung. Ganz falsch lag er damit nicht, wenngleich Nerven die Signale chemoelektrisch und nicht mechanisch weiterleiten. Für die detaillierte Beschreibung dieser Fäden als sensorische Nervenfasern erhielten die beiden US-Physiologen Professor Joseph Erlanger und Professor Herbert Gasser 1944 den Medizin-Nobelpreis.
In diesem Jahr hat das Nobelpreiskomitee mit den beiden Professoren David Julius und Ardem Patapoutian zwei weitere Forscher für die Entschlüsselung von Sinneswahrnehmungen geehrt. Sie haben herausgefunden, auf welchem Weg Sinneszellen in der Lage sind, Temperatur und Tastempfindungen wahrzunehmen.
Mit „Hot Chili“ auf der Suche nach dem Temperatursensor
David Julius, geboren 1955 in New York, hatte in den 1990er-Jahren an der Universität in San Francisco den Chili-Wirkstoff Capsaicin benutzt, um herauszufinden, wie Nervenzellen Schmerzreize wahrnehmen. Er stellte eine DNA-Datenbank von Genen her, die auf Capsaicinreize hin exprimiert werden und setzte diese Gene in Zellen ein, die normalerweise nicht auf die Verbindung ansprechen.
Auf diese Weise fand er schließlich ein Gen, das die Zellen für Capsaicin empfänglich machte – es kodiert für den Capsaicin-Rezeptor. Dieser erhielt später den Namen TRPV1 für „transienter Rezeptor-Potenzial-Kationenkanal Vanilloid 1“ und war auch in der Lage, auf Temperaturveränderungen zu reagieren.
Doch TRPV1 ist nicht der einzige temperaturempfindliche Rezeptor. Julius und weitere Forscher, darunter auch der zweite Preisträger Ardem Patapoutian, entdeckten weitere Mitglieder der TRP-Familie und über einen ähnlichen Ansatz mit Menthol TRPM8, einen kälteempfindlichen Sensor. „Die Entdeckung von TRPV1 war der Durchbruch für das Verständnis, wie Temperaturunterschiede in elektrische Signale übertragen werden“, so die Begründung des Preiskomitees.
Durch Fleißarbeit zum Drucksensor
Nach der Jahrhundertwende gelang Ardem Patapoutian, geboren 1967 in Beirut im Libanon, am Scripps Institute in La Jolla bei San Diego ein weiterer Durchbruch: Er isolierte druckempfindliche Rezeptoren, indem er nach und nach jeden einzelnen Typ von Ionenkanal von druckempfindlichen Zellen mit biotechnischen Methoden ausschaltete.
Nach langer Fleißarbeit wurde er beim 72sten Ionenkanal fündig: Ohne diesen konnten die Zellen keine Druckreize wahrnehmen. Der Rezeptor wurde daraufhin PIEZO1 getauft – nach dem griechischen Wort für Druck. Anhand Ähnlichkeiten mit seiner Gensequenz kamen die Forscher um Patapoutian dann auch dem Rezeptor PIEZO2 auf die Spur. Dieser ist vor allem in sensorischen Nervenzellen aktiv, welche Berührungen und Körperposition wahrnehmen. Beide Rezeptoren sind auch für Atmung sowie Blutdruck- und Blasenkontrolle relevant. Sie reagieren primär auf mechanische Veränderungen der Zellmembran.
Die beiden Entdeckungen, so der Generalsekretär des Nobelpreiskomitees, Thomas Perlmann, könnten die Entwicklung von neuen Therapien vorantreiben, etwa gegen chronische Schmerzen. Auf die Frage, ob denn das Komitee im vergangenen Jahr nicht auch wissenschaftliche Arbeiten zu bahnbrechenden Entwicklungen wie mRNA-Vakzinen gegen COVID-19 geprüft habe, äußerte sich Perlmann zurückhaltend. „So arbeiten wir nicht. Wir warten stets auf Nominierungen, und jede neue Nominierung werden wir äußerst gründlich prüfen. Aber natürlich erreichen uns die großen Durchbrüche in der Medizin.“
Immerhin haben die mRNA-Entwickler bei der Bekanntgabe des Chemie-Nobelpreises am Mittwoch noch eine Chance – wenn sie denn nominiert worden sind.