Studie zeigt
Mehr ADHS-Diagnosen bei fünfjährigen Erstklässlern
Die Ferien neigen sich in vielen Bundesländern dem Ende zu. Auch viele Fünfjährige blicken damit ihrer Einschulung entgegen. Eine neue Zi-Studie zeigt jedoch, dass die Jüngsten im Klassenverband häufiger eine ADHS-Diagnose erhalten.
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. Kinder, die ihren sechsten Geburtstag nur kurz vor dem Stichtag der Einschulung feiern und damit die jüngsten in ihrer Klasse sind, erhalten häufiger die Diagnose ADHS - und eine entsprechende Medikation - als ihre älteren Klassenkameraden.
"Unsere Ergebnisse zeigen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der ADHS-Diagnose- und Medikationshäufigkeit und der relativen Altersposition von Kindern in der Klasse", erklärt die Erstautorin der Studie, Professorin Amelie Wuppermann. Auch in anderen Ländern konnten Forscher bereits ähnliche Zusammenhänge nachweisen.
Daten von sieben Millionen Kindern
Stichtag
Der Stichtag regelt den Beginn der Schulpflicht.
Kinder, die bis zu diesem Tag sechs Jahre alt werden, werden nach den Sommerferien eingeschult – selbst wenn sie zum Zeitpunkt der Einschulung noch fünf Jahre alt sind.
Bis 2003 war dieser Stichtag bundesweit der 30. Juni. Danach wurde er in acht Bundesländern nach hinten geschoben.
Heute liegt er in Thüringen auf dem 1. August, in Rheinland-Pfalz auf dem 31. August, in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen auf dem 30. September und in Berlin sogar erst auf dem 31. Dezember.
Ausgewertet hatten Wuppermann und ihr Team bundesweite und kassenübergreifende Abrechnungsdaten von rund sieben Millionen Kindern zwischen vier und 14 Jahren aus den Jahren 2008 bis 2011.
Das Resultat: Von den jüngeren Kindern, die im Monat vor dem Stichtag der Einschulung geboren sind, erhielten im Schnitt im Laufe der nächsten Jahre 5,3 Prozent eine ADHS-Diagnose, bei den älteren Kindern, die im Monat nach dem Stichtag geboren sind, lag der Prozentsatz bei 4,3 Prozent.
"Für die Bundesländer mit Einschulungsstichtag 30. Juni sehen wir einen bedeutenden Sprung in der ADHS-Prävalenz zwischen im Juni und im Juli geborenen Kindern", sagt Wuppermann.
"In Bundesländern mit anderen Einschulungsstichtagen dagegen gibt es keine Unterschiede in der ADHS-Prävalenz zwischen Juni- und Juli-Kindern. Dafür zeigen sich dann Sprünge um die jeweils anderen Stichtage."Die Medikationsprävalenzen unterscheiden sich im Mittel um 0,8 Prozentpunkte. "Mich hat überrascht, wie robust und eindeutig die Ergebnisse unserer Studie sind", sagte Wuppermann der "Ärzte Zeitung".
Generell stellten Ärzte die Diagnose bei Jungen häufiger als bei Mädchen. Auffällig ist zudem, dass bei größeren Klassen und einem höheren Anteil ausländischer Schüler - was die Unterrichtsbedingungen wahrscheinlich erschwert - der Zusammenhang zwischen relativem Alter und ADHS stärker ist.
Unreife der Jüngeren fällt auf
"Möglicherweise fällt bei schwierigeren Unterrichtsbedingungen die relative Unreife jüngerer Kinder in der Klasse stärker auf", sagt Dr. Jörg Bätzing-Feigenbaum, Mitautor und Leiter des Versorgungsatlas' des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi).
Auch ein höherer Bildungshintergrund der Eltern verstärkt den Alterseffekt. Hier vermuten die Wissenschaftler, dass Eltern mit einem höheren Bildungsgrad mehr auf die Förderung ihrer Kinder achten und daher weniger bereit sind, Nachteile in Kauf zu nehmen, die durch die relative Unreife ihrer Kinder entstehen könnten.
Dies stärkt die Vermutung der Forscher, dass das Verhalten jüngerer - und damit oft unreiferer - Kinder in einer Klasse mit dem der Älteren verglichen wird. "Dann wird deutlich, dass Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit bei den jüngeren ausgeprägter sind", schreiben die Studienautoren.
Über diese Vermutung hinaus konnte die Frage, warum die jüngeren Kinder eines Klassenverbandes mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine ADHS-Diagnose erhalten als ihre älteren Klassenkameraden, jedoch nicht beantwortet werden. Ungeachtet dessen ergeben sich laut den Autoren jedoch Konsequenzen für Hausärzte und Einschulungspolitik.
"Hausärzte sollten bei Kindern, die relativ jung erscheinen für ihre Klassenstufe, besonders vorsichtig sein, wenn es um den Verdacht ADHS geht", rät Bätzing-Feigenbaum auf Anfrage der "Ärzte Zeitung". "Dann wäre es sinnvoll, im Zweifelsfall einen Facharzt hinzuzuziehen", so der Facharzt für Allgemeinmedizin.
Wuppermann ergänzt: "Auch könnten Ärzte dazu beitragen, das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen ADHS-Symptomen und dem tatsächlichen Lebensalter zu stärken. Dies könnte bewirken, dass mehr Eltern und Lehrer bei ihrer Einschätzung des Verhaltens der Kinder tatsächlich gleichaltrige Kinder und nicht die Kinder in der gleichen Klassenstufe als Vergleichsgruppe heranziehen."
Flexible Schuleingangsphase?
Auch für die Einschulungspolitik könnte die am Dienstag veröffentlichte Studie Impulse liefern. "Die traditionelle Einschulungspolitik, bei der die Schulpflicht an Stichtage geknüpft wird, kann die Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern beeinflussen. Kinder, die quasi gleich alt sind, haben heute ein unterschiedlich hohes Risiko, eine ADHS-Diagnose zu bekommen", schreiben die Forscher.
Sie empfehlen, in zukünftigen Studien zu untersuchen, ob etwa eine flexible Schuleingangsphase diesen Zusammenhang abmildern kann.