DGU-Kongresspräsident im Interview
"Müssen uns frei machen von alten Gewohnheiten"
Die Urologie steht vor einer spannenden Zukunft: Weil die Menschen immer älter werden, wird der Versorgungsbedarf krass steigen, sagt DGU-Präsident Professor Fichtner im Interview mit der "Ärzte Zeitung". Der demografische Wandel ist Leitgedanke des Urologen-Kongresses, der vom 1. bis 4. Oktober in Düsseldorf stattfindet.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Herr Professor Fichtner, Sie haben den demografischen Wandel unserer Gesellschaft zum Leitgedanken des Kongresses gemacht - ein Vorgang, der gern als Bedrohung inszeniert wird. Sie dagegen wollen den "Demografischen Wandel gestalten", so das Motto. Das hört sich zuversichtlich an...
Professor Jan Fichtner: Wenn man etwas als Bedrohung wahrnimmt, kann das lähmen. Ich denke, die Situation bietet neben Risiken auch Chancen. Vor allem dürfen wir nicht warten, bis Politiker die Dinge regeln.
Der DGU-Kongress soll in diesem Jahr ein Kristallisationspunkt für Initiativen und Ideen sein, um gestaltend mit dem demografischen Wandel umgehen zu können und um uns Urologen fit zu machen für die Zukunft..
Was dringend notwendig erscheint, glaubt man einer Analyse, die Sie und Ihr Kollege Dr. Andreas W. Schneider aus Salzhausen in "Der Urologe" publiziert haben. Demnach wird der Versorgungsbedarf im Fach Urologie deutlich stärker steigen als in anderen Disziplinen. Warum ist das so?
Professor Jan Fichtner
Position: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU), Chefarzt der Urologischen Klinik am Johanniter Krankenhaus in Oberhausen
Werdegang: Medizinstudium in Bonn, Facharztausbildung an der Urologischen Universitätsklinik Mainz, einjähriger Forschungsaufenthalt Stanford University, Kalifornien, Habilitation an der Universität Mainz 1997
Engagement: Wissenschaftliche Auslandsaufenthalte in den USA, Japan, Irland, Frankreich mit den Schwerpunkten Prostatakarzinom und plastischrekonstruktive Urologie; seit 2004 Mitglied im Vorstand der DGU
Fichtner: Das hat etwas mit dem Altersprofil unserer Patienten im Vergleich mit anderen Fachdisziplinen zu tun. Urologen beschäftigen sich überproportional häufig mit Patienten in fortgeschrittenem Lebensalter: Prostata-, Harnblasen- und Nierentumore treten eben meist erst in dieser Lebensphase auf, hinzu kommen Probleme wie Harninkontinenz bei Frauen und Männern oder die BPH, die jeden zweiten Mann jenseits der 50 betrifft. Deshalb sind wir Urologen überdurchschnittlich von den Folgen des demografischen Wandels betroffen.
Auf der Grundlage von Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung rechnen wir bis 2025 mit einer Steigerung des Versorgungsbedarfs um fast 20 Prozent - ein Trend, der bereits seit den 1990er-Jahren sichtbar ist. Das ist im Vergleich mit allen anderen Facharztgruppen der stärkste Leistungszugewinn.
Was schlussfolgern Sie daraus?
Fichtner: Wir müssen rasch steigenden Patientenzahlen gerecht werden, zugleich ist absehbar, dass wir die Zahl der urologisch tätigen Ärzte nicht werden parallel steigern können.
Ich sehe zwei Optionen: Wenn wir zunehmend mehr urologisch erkrankte Menschen adäquat versorgen wollen, kommen wir nicht umhin, tradierte Indikationsstellungen, etwa zu Operationen, in ihrer Sinnhaftigkeit zu hinterfragen, und zwar vor dem Hintergrund der verbleibenden Lebenserwartung und der Komorbidität alter Menschen. Wir müssen uns fragen, was wirklich sinnvoll und angemessen ist.
Sprechen Sie vom Prostatakarzinom?
Fichtner: Das ist ein Beispiel. So haben wir erstmals in der jetzt aktualisierten S3-Leitlinie zum Prostatakarzinom ein geriatrisches Assessment als Werkzeug zur individualisierten Entscheidungsfindung implementiert.
Und welches ist die zweite Option?
Fichtner: Zweitens müssen wir das Fach für den ärztlichen Nachwuchs attraktiv halten und noch attraktiver machen. Dafür haben wir verschiedene Stipendien-Programme aufgelegt.
Beim Kongress gibt es wieder den Schüleraktionstag, wir gehen in den Fakultäten aktiv auf die Medizinstudenten zu, wir loben Promotionsstipendien aus und die DGU finanziert bis zu fünf volle Stellen in der urologischen Forschung für ein Jahr.
Wird das reichen?
Fichtner: Wir müssen uns außerdem frei machen von althergebrachten Gewohnheiten wie: "Wer in einem operativen Fach arbeiten will, muss Vollzeit arbeiten!" Das wird nicht funktionieren! Intelligente Arbeitszeitmodelle dürfen keine Lippenbekenntnisse bleiben.
Wir wollen Rahmenbedingungen schaffen, die die Urologie gerade auch für Frauen attraktiv macht, Bedingungen, unter denen Familien- und Berufsleben miteinander vereinbar sind, zum Beispiel mit innovativen Arbeitszeitmodellen.
Der demografische Wandel findet auch in der Ärzteschaft statt und die Konkurrenz um den ärztlichen Nachwuchs zwischen den Fachdisziplinen hat längst begonnen.
Der demografische Wandel hat auch einen ökonomischen Aspekt...
Fichtner: Priorisierung und Rationierung stehen in Deutschland bislang nicht wirklich auf der Tagesordnung. Es liegt auch in der Verantwortung von uns Ärzten, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir unter ökonomischen Zwängen und bei steigendem Versorgungsbedarf die Patienten gut versorgen können.
Ist die Delegation ärztlicher Leistungen eine solche Strategie?
Fichtner: Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen sind sehr wichtig. In Zusammenarbeit mit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Karlsruhe ist im Oktober 2013 der Bachelor-Studiengang Urologie gestartet.
Qualifizierte Pflegekräfte können sich dort innerhalb von drei Jahren zu Arztassistenten ausbilden lassen. Der Abschluss soll die Absolventen befähigen, ärztliche Routinetätigkeiten zu übernehmen und damit Fachärzte für Urologie zu entlasten.
Nun haben wir doch wieder hauptsächlich über die Risiken des demografischen Wandels gesprochen - sehen Sie auch Chancen?
Fichtner: Eine Mangelsituation erhöht den Druck in Richtung Veränderungen, die wir bislang vielleicht zu träge waren umzusetzen - Veränderungen, die vergleichsweise optimalere Versorgungswege für Patienten ermöglichen.
Die geriatrische Urologie und Palliativmedizin zum Beispiel standen lange nicht im Fokus unseres medizinischen Handelns, ebenso wenig wie psychoonkologische Themen oder Methoden der Gesprächsführung. Je mehr man sich mit solchen Themen beschäftigt, desto mehr positives Feedback erhält man von Patienten und Angehörigen, das ist jedenfalls meine Erfahrung.
Wir stellen fest: Nicht immer ist eine Operation oder eine medikamentöse Therapie das einzig Richtige für den einzelnen Menschen in seiner Situation. Eine differenzierte Herangehensweise an die jeweiligen Gesundheitsprobleme bietet mehr Chancen für Patienten und setzt für Ärzte zugleich Valenzen frei, sich intensiver mit den Patienten beschäftigen zu können.
Das Kongressprogramm macht an vielen Stellen den Eindruck, dass Urologen eine Reihe bestehender Therapiekonzepte kritisch hinterfragen.
Fichtner: In der Tat: Auch in Zeiten der evidenzbasierten Medizin machen wir viele Dinge so oder so, weil wir sie schon immer auf diese Weise gehandhabt haben. Solange kein äußerer Zwang wie demografischer Wandel oder ökonomischer Druck da ist, läuft es so weiter, durchaus in der Überzeugung, dass das richtig sei.
Viele Abläufe jedoch, zum Beispiel in der onkologischen Nachsorge mit bestimmten Untersuchungen in festgelegten Intervallen über Monate und Jahre, sind wissenschaftlich gar nicht belegt. Nutzt das dem einzelnen Patienten wirklich? Ist das sinnvoll unter Kosten-Nutzen-Aspekten? Als wissenschaftliche Fachgesellschaft sind wir gefordert, solche Fragen mit Daten zu beantworten.
Wir haben dazu das Versorgungsforschungsnetzwerk UroCloud etabliert. Daraus ergeben sich Chancen, besonders für Patienten, aber auch für Ärzte. Denn alles, was in der Nachsorge geschieht, ist ja mit potenziellen Morbiditäten verknüpft.
So haben wir bei Patienten mit Hodentumoren die Strahlenbelastung durch Nachsorge-Computertomographien signifikant senken können. Die zugleich eingesparten Kosten stehen nun für andere Allokationen zur Verfügung. Analoge Möglichkeiten gibt es in vielen anderen Bereichen unseres Fachgebiets.
"Was bringen Leitlinien?", lautet der Titel einer Forumssitzung. Stehen eigentlich der Aufwand zur Erstellung von Leitlinien, deren Umfang und Aktualität überhaupt noch in einem gesunden Verhältnis zum tatsächlichen Nutzen?
Fichtner: Das ist eine ganz wichtige Frage! Wenn man sich überlegt, mit welchen Kosten und welchem immensen personellen und zeitlichen Aufwand eine S3-Leitlinie erstellt wird, wenn man die Latenzzeit von medizinischen Innovationen bis zur turnusmäßigen Überarbeitung der Leitlinie betrachtet, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass das ursprüngliche Ansinnen, alles in Leitlinien pressen und für jede Teilproblematik eine Leitlinie erstellen zu wollen, nicht sinnvoll ist.
Für große Indikationen wie das Prostatakarzinom benötigen wir Leitlinien, aber nicht jede medizinische Frage kann evidenzbasiert und standardisiert beantwortet werden. Das ist finanziell und organisatorisch nicht zu leisten.
Beruhen Leitlinien nicht auch auf einem verzerrten Bild der Behandlungswirklichkeit, gerade wegen des Zwangs zu einem hohen Evidenzlevel und der bevorzugten Berücksichtigung randomisierter Studien?
Fichtner: Das ist sicher ein Problem, ganz besonders mit Blick auf die Patientenklientel im Seniorenalter. Die wegen der Evidenzsystematik bedingte Fokussierung auf randomisierte Doppelblindstudien bedeutet, dass auf viele therapeutische Fragen keine entsprechenden Antworten existieren.
Deshalb ist die patientennahe Versorgungsforschung so wichtig. Deren Ergebnisse müssen wir dann ebenso für unsere Therapiealgorithmen nutzen.
Hausärzte müssen angesichts der besprochenen Entwicklungen zumindest einen Teil der urologischen Grundversorgung mit übernehmen. Welche Themen halten Sie für diese Kolleginnen und Kollegen für besonders wichtig?
Fichtner: Dazu gehört natürlich die Mitarbeit bei der Prostatakarzinom-Früherkennung, damit bei entsprechenden Symptomen zeitnah die Abklärung beim Urologen erfolgen kann. Die Zahl inkontinenter Patienten wird weiter zunehmen, gerade auch unter bettlägerigen Patienten in Pflegeheimen.
Nicht umsonst werden wir beim DGU-Kongress in zwei Foren speziell die Problematiken beim älteren Patienten beleuchten, dabei wird es um Schmerztherapie und Palliativmedizin gehen - daraus ergeben sich zwangsläufig Schnittpunkte mit dem hausärztlichen Bereich.
Generell brauchen wir die enge Kooperation mit den Hausärzten, gerade auch mit Blick auf die optimale medikamentöse Behandlung.
Das Interview führte Thomas Meißner
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