Professor Cornel Sieber

"Ohne Mut könnte ich nicht Geriater sein"

Überversorgung vermeiden, Ressourcen schonen: Mit der "Klug entscheiden"-Kampagne hat die DGIM eine inzwischen weltweit diskutierte Initiative aus den USA aufgegriffen. Es bei Negativempfehlungen zu belassen, wäre jedoch zu kurz gesprungen, betont der Geriater Professor Cornel Sieber im Interview mit der "Ärzte Zeitung".

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Professor Cornel Sieber

Professor Cornel Sieber

© Uni Erlangen-Nürnberg

Das Interview führte Thomas Meißner

Ärzte Zeitung: Herr Professor Sieber, die DGIM möchte mit ihrer "Klug entscheiden"-Kampagne dazu anhalten, unnötige medizinische Maßnahmen zu unterlassen. Was fällt Ihnen als Geriater da als Erstes ein?

Professor Cornel Sieber: Ich bin sehr froh, dass die DGIM das "Choosing-wisely"-Konzept aus den USA aufgegriffen hat. Primär ist es darauf angelegt, Überversorgung zu vermeiden - ein zweifellos wichtiger Aspekt bei hochbetagten, multimorbiden Menschen. Dabei darf man es jedoch nicht belassen!

Denn es gibt auch die Unterbehandlung. "Klug entscheiden" bedeutet mehr, als nur den Verzicht auf nicht indizierte Diagnostik und Therapie. Hochbetagte brauchen für wichtige Krankheiten, die zu einem Funktionsverlust führen können, unbedingt die entsprechende Therapie. Genau das ist es auch, was der DGIM-Vorstand für alle Fächer in der Inneren Medizin umsetzen möchte, eine dem Patientenwunsch entsprechende Priorisierung, keine Rationierung!

Ist es überhaupt möglich, dafür in der Geriatrie pauschale Ratschläge zu geben?

Sieber: Ich frage den vor mir sitzenden Menschen: "Was stört Sie am meisten?" Viele dieser hochbetagten Menschen wollen die ihnen verbleibende Zeit in möglichst guter Funktionalität und weitgehender Selbstständigkeit verbringen. Das nehme ich als das Primat.

Als klinisch tätiger Akutgeriater schaue ich, warum dieser Mensch aktuell ins Krankenhaus kommt und wie sich die akute Problematik in seine Palette von Krankheiten einbettet. Dies bespreche ich mit dem Patienten. Manche vorbestehende Diagnose steht dann womöglich nicht so im Vordergrund.

Nehmen wir an, ein Patient wird nach einem Sturz ins Krankenhaus eingewiesen...

Sieber: ... und hat eine nicht operationspflichtige Beckenringfraktur erlitten. Warum ist dieser Mensch gestürzt? Ich stelle fest, dass er wegen einer arteriellen Hypertonie leitliniengerecht und sehr gut auf zwei oder drei Antihypertensiva eingestellt ist.

Gegebenenfalls würde ich künftig versuchen, den Blutdruck am oberen Grenzwert der Empfehlungen einzustellen, wissend, dass es wichtiger ist, einen Sturz wegen orthostatischer Hypotonie zu verhindern, als die potenziellen Spätschäden einer suboptimal eingestellten Hypertonie. Ein spitz eingestellter Blutdruck wäre in diesem Fall eine Übertherapie.

Die US-amerikanische Gesellschaft für Geriatrie hat zehn Tipps veröffentlicht, welche Maßnahmen in Frage gestellt oder unterlassen werden sollten. Würden Sie die so unterschreiben?

Sieber: Ich sehe diese Vorschläge der American Geriatrics Society (AGS) unterschiedlich. So stimme ich zu, dass Antipsychotika keine Medikamente der ersten Wahl bei Symptomen einer Demenz sind.

Gleiches gilt für Benzodiazepine bei Schlafstörungen, weil diese vermehrt zu Stürzen führen. Und Patienten mit isolierter Bakteriurie ohne spezifische Symptome benötigen keine Antibiotika.

Kritischer sehe ich die AGS-Empfehlung zu den Cholinesterase-Hemmern bei Demenz: Die Kollegen überbetonen die Bedeutung gastrointestinaler Nebenwirkungen, so etwas schreckt vor der Verordnung ab - in Deutschland werden Menschen mit Demenz und mit kognitiven Einschränkungen eher unterbehandelt.

Richtig ist es dagegen zu fordern, bei alten Menschen kein Screening auf Brust-, Prostata- und Kolorektalkarzinome vorzunehmen ohne sich bereits vorher zu überlegen, welche Konsequenzen die Diagnose einer solchen Erkrankung hätte.

In der Geriatrie klug zu entscheiden bedeutet, schon bei der Wahl diagnostischer Maßnahmen abzuwägen: Was mache ich, wenn das Resultat so oder so ausfällt?

Womit sind Sie gar nicht einverstanden?

Sieber: Gar nicht einverstanden bin ich mit der AGS-Empfehlung, kachektischen alten Menschen keine hochkalorischen Supplemente zu geben. Denn Muskelschwund geht mit reduzierter Funktionalität einher.

Auch bei der Empfehlung, HbA1c-Werte von unter 7,5 Prozent ausschließlich mit Metformin erreichen zu wollen, mache ich ein Fragezeichen. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft hat altersadjustierte HbA1c-Zielwerte definiert. Dafür können natürlich außer Metformin auch Gliptine oder Insuline verwendet werden.

Wird es in Deutschland ebenso wie in den USA fachspezifische "Klug entscheiden"-Listen geben?

Sieber: Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie hat unter Federführung von Dr. Manfred Gogol aus Coppenbrügge eine solche Liste bereits erstellt und Anfang Juli 2015 vorgestellt. Bis zum Herbst sollen jeweils fünf Negativ- und fünf Positivempfehlungen pro Disziplin abgegeben werden.

Braucht es auch Mut, um bestimmte diagnostische oder therapeutische Maßnahmen nicht zu ergreifen?

Sieber: Ohne Mut könnte ich nicht Geriater sein! Es sind gerade die alten, multimorbiden Patienten, die am meisten vom "Klug entscheiden"-Konzept profitieren. Sie haben im Mittel sieben bis acht Diagnosen.

Würde ich jede davon leitliniengerecht behandeln, liefe ich unweigerlich in die Problematik der Multimedikation mit Interaktionen und unerwünschten Arzneimittelwirkungen hinein.

Daher braucht es den Mut - oder besser gesagt, die Klugheit - Dinge wegzulassen und zu priorisieren.

Theoretisch ist das jedem klar, im Einzelfall sind die Entscheidungen dann doch schwer. Wie kann man vorgehen?

Sieber: Das kann gut funktionieren in Absprache mit dem Patienten selbst, mit pflegenden Angehörigen und anderen. Beantwortet werden muss die Frage: Was ist wirklich relevant? Was dient der Lebensqualität tatsächlich?

Ich weise immer wieder auf den funktionellen Aspekt als Entscheidungsgrundlage hin. Im Studium haben wir eine Defizit-orientierte Medizin erlernt, wir kodieren die Krankheiten nach der ICD. Günstiger für den älteren Menschen wäre meiner Ansicht nach die ICF (International Classification of Functioning).

Denn die Defizite kann ich ja nicht revertieren. Ich muss also schauen, wie ich zu einer Ressourcen-orientierten Medizin komme, eine Medizin, wie sie viele Hausärzte längst sehr gut praktizieren.

Um den funktionellen Aspekt zu umfassen, ist das geriatrische Basis-Assessment notwendig. Dieses liefert gute Informationen über die funktionellen Reserven dieses Menschen. Darauf aufbauend würde ich mir anschauen, wie sich die einzelnen Krankheiten dort einbetten. In Bezug auf die Multimedikation gibt die bekannte Priscus-Liste eine Orientierung.

Ich möchte außerdem noch die gerade aktualisierten STOPP/START* Prescription Criteria von irischen Kollegen empfehlen, in der es nicht nur um das Vermeiden von Arzneimitteln geht, sondern auch um das Starten notwendiger Medikationen.

*STOPP - Screening Tool of Older Person's Prescriptions; START - Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment

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