Unter Verdacht

Schlagen Cholesterinsenker aufs Gedächtnis?

Schon vor einigen Jahren gerieten Statine unter den Verdacht, Gedächtnisprobleme auszulösen. Möglicherweise gilt das sogar für andere Arten von Lipidsenkern, wie neue Daten zeigen. Aber es gibt auch noch eine ganz andere Erklärung.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Führen Lipidsenker zu Gedächtnisproblemen? Die Studienlage zu diesem Thema ist uneindeutig.

Führen Lipidsenker zu Gedächtnisproblemen? Die Studienlage zu diesem Thema ist uneindeutig.

© Andrea Danti / fotolia.com

NEWARK. Vor über drei Jahren hat die US-Zulassungsbehörde FDA ihre Warnhinweise zu Statinen erweitert: Sie könnten womöglich auch akute Gedächtnisprobleme auslösen. Für diese Warnung erntete die Behörde zum Teil heftiges Kopfschütteln.

Zum einen beruhte sie überwiegend auf Einzelfallberichten, zum anderen gibt es aus epidemiologischen Studien deutliche Hinweise auf den gegenteiligen Effekt. Auch der Wirkmechanismus spricht eher für einen günstigen Einfluss der Medikamente: Hohe Cholesterinwerte sind ein wichtiger Demenz-Risikofaktor, Statine scheinen darüber hinaus die Beta-Amyloid-Synthese zu bremsen.

Letztlich sind aber die klinischen Effekte entscheidend, und so löste die FDA-Warnung eine Suche nach neuen Hinweisen zum Risiko für Gedächtnisprobleme in der Literatur und in Datenbanken aus.

Bereits anderthalb Jahre später erschien eine Metaanalyse von 57 Untersuchungen. Große Kohortenstudien, Fall-Kontroll-Studien und Querschnittsuntersuchungen sprachen in der Summe, wie erwartet, eher für positive Langzeiteffekte von Statinen auf das Gedächtnis (Ann Intern Med 2013; 159: 688).

Und in einer vor kurzem veröffentlichten Analyse von 25 placebokontrollierten Therapiestudien mit über 46.000 Patienten fanden die Forscher auch keinerlei akute Probleme wie Gedächtnisverlust, Vergesslichkeit, Amnesie oder Verwirrtheitszustände (J Gen Intern Med 2015; online 10. Januar).

Vierfach erhöhtes Risiko

Nun nahmen Medizinstatistiker um Dr. Brian Strom von der Rutgers-Universität in Newark die britische Hausarztdatenbank THIN (The Health Improvement Network) mit Diagnosen von rund elf Millionen Patienten unter die Lupe. Dabei wollten sie schauen, ob nach dem Beginn einer Statintherapie gehäuft kognitive Probleme auftraten.

Sie suchten also nach entsprechenden Diagnosecodes für Amnesie, Gedächtnisverlust, kurzfristigen Gedächtnisverlust, medikamenteninduzierte Amnesie, leichte Gedächtnisstörungen und Ähnlichem. Als Vergleichsgruppe dienten Patienten ohne Statine mit gleichem Geschlecht und Alter, die zu einem vergleichbaren Zeitpunkt ihren Hausarzt konsultierten (JAMA Intern Med 2015, online 8. Juni).

Insgesamt konnte das Team um Strom mehr als 480.000 Statinpatienten aus den vergangenen 30 Jahren identifizieren und ebenso viele Kontrollpersonen ohne Statintherapie. Wie sich herausstellte, wurde bei den Statinpatienten in den ersten 30 Tagen nach Therapiebeginn vierfach häufiger eines der genannten Gedächtnisprobleme diagnostiziert als in der Kontrollgruppe.

Je länger der Zeitraum war, den sich die Forscher anschauten, umso geringer war aber der Unterschied. Auf den ersten Blick scheint dies den Verdacht zu bestätigen, dass Statine zumindest zu Therapiebeginn einen negativen Effekt auf die Kognition ausüben.

Alles nur Bias?

Allerdings sind auch noch andere Erklärungen möglich. Vielleicht gehen Statinpatienten aufgrund ihrer diversen kardiovaskulären Probleme häufiger zum Arzt. Die Chance, dass diesem eine kognitive Veränderung auffällt, ist dann höher als bei Patienten, die er nur einmal im Jahr sieht.

Um einen solchen Detektions-Bias auszuschließen, verglichen die Forscher auch die Diagnosen von mehr als 26.000 Patienten mit anderen Lipidsenkern und einer entsprechenden Kontrollgruppe.

Überraschenderweise zeigte sich hier ein ähnlicher Effekt: Auch bei Patienten mit Fibraten, Niacin und anderen Mitteln zur Blutfettreduktion war die Häufigkeit von Gedächtnisproblemen in den ersten 30 Tagen deutlich höher als in der Kontrollgruppe, und zwar um den Faktor 3,6.

Zwischen Patienten mit Statintherapie und anderen Lipidsenkern gab es hingegen keine statistisch signifikanten Unterschiede.

Die Schlussfolgerung: Entweder erhöht jegliche Cholesterinsenkung das Problem für Gedächtnisstörungen oder es handelt sich tatsächlich um einen Detektions- oder sonstigen Bias.

Da sowohl der Wirkmechanismus als auch das Ausmaß der Cholesterinsenkung bei den einzelnen Substanzen sehr unterschiedlich sind, hält es das Team um Strom für wahrscheinlicher, dass die erhöhte Rate von Gedächtnisstörungen etwas mit den Patienten (erhöhtes Risiko für Gedächtnisstörungen bei kardiovaskulären Problemen) und den Ärzten (erhöhte Detektionswahrscheinlichkeit bei häufigen Konsultationen) als mit der Therapie zu tun hat.

Vielleicht sollten Ärzte und Forscher bei dieser Frage dann doch lieber den bereits vorhandenen randomisiert-placebokontrollierten Interventionsstudien vertrauen oder neue mit Kognitionsendpunkten auflegen, als in schwer interpretierbaren Daten zu stochern.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Sturm im Wasserglas

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