Gastbeitrag zur „Abnehmspritze“

Semaglutid: GLP-1-Agonisten zu verteufeln, ist kontraproduktiv

Der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte erweist der Ärzteschaft mit Aussagen zur „Abnehmspritze“ mit Semaglutid einen Bärendienst. Denn: Kranke Menschen werden verunsichert.

Prof. Dr. Stephan MartinEin Gastbeitrag von Prof. Dr. Stephan Martin Veröffentlicht:
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In Deutschland vielerorts vergriffen: Das eigentlich für die Diabetestherapie vorgesehene Präparat mit Semaglutid nutzen viele Menschen zur Gewichtsreduktion.

© Remko de Waal/ANP/picture alliance

Die öffentliche Diskussion um die sogenannte „Wunderspritze zur Gewichtsabnahme“ ebbt nicht ab. In einem Interview mit „Spiegel online“ hat nun am 14. November Professor Karl Broich, der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die Debatte zu Semaglutid weiter angefacht. Unter dem Titel „Gefährliche Abnehmspritzen – Ich wünsche Elon Musk, dass er keinen Schilddrüsenkrebs bekommt“ kündigt er darin an, dass das BfArM über ein Exportverbot für das Präparat nachdenkt. Weil der Pharmagroßhandel für Deutschland vorgesehene Lieferungen ins Ausland verkauft, werden Engpässe verschärft. Momentan sind nämlich fast alle GLP-1-Agonisten bei uns vergriffen.

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EMA sieht keinen Zusammenhang mit Schilddrüsenkrebs

Der BfArM-Präsident kritisiert zudem, dass es offenbar keine vernünftige Nutzen-Risiko-Abwägung mehr gebe und Nebenwirkungen „völlig unter den Tisch gekehrt“ würden. Aufgrund dieser Aussagen haben sich nun viele Menschen mit Typ-2-Diabetes und GLP-1-Therapie besorgt in Praxen gemeldet. Was lässt sich ihnen nun sagen, und welche Nebenwirkungen werden „unter den Tisch gekehrt“?

Der geäußerte Verdacht von Schilddrüsenkrebs entstand aufgrund tierexperimenteller Daten und einer Fall-Kontroll-Studie (Diab Care. 2023; 46: 384). Das „Pharmacovigilance Risk Assessment Committee“ (PRAC) der Europäischen Arzneibehörde (EMA) hat sich Ende Oktober damit beschäftigt. In einer Verlautbarung gab das PRAC hier am 27. Oktober Entwarnung (18 Tage vor dem präsidialen Interview). Fazit: Das Sicherheits-Komitee sieht aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse keinen kausalen Zusammenhang zwischen Schilddrüsenkrebs und den GLP-1-Agonisten Exenatid, Liraglutid, Dulaglutid, Semaglutid und Lixisenatid.

Weitere Studie bestätigt Herzschutz durch Semaglutid

Am 11. November 2023 (drei Tage vor dem Interview!) wurden dann beim Kongress der American Heart Association (AHA) in Philadelphia (USA) die Ergebnisse der SELECT-Studie präsentiert (NEJM 2023; online 11. November). An der placebo-kontrollierten Studie nahmen 17.606 kardiovaskulär vorerkrankte Patienten mit Adipositas (ohne Diabetes mellitus!) teil. Das Ergebnis: Durch Semaglutid wurde der kombinierte Endpunkt aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall um relative 20 Prozent reduziert (absolute Risikoreduktion 1,5 Prozent, NNT 67).

Damit bestätigen sich frühere Studienergebnisse bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Die Raten an kardiovaskulären Ereignissen konnten durch Semaglutid (aber auch durch Liraglutid und Dulaglutid) reduziert werden. Vergleichbare Ergebnisse wurden mit der bei Typ-2-Diabetes oft und gerne angewendeten Insulintherapie nicht erreicht.

Wesentliche Nebenwirkungen der GLP-1-Agonisten sind gastrointestinaler Art wie Übelkeit und Erbrechen. Möglicherweise kann es bei hoher Dosierung und langer Einnahme durch die Reduktion der gastrointestinalen Motilität vermehrt zur Entwicklung von Gallensteinen kommen. Wie bei jeder neuen Arznei sind zur Langzeitanwendung über viele Jahre keine Aussagen möglich. Mit diesen Fakten können wir Menschen mit Typ-2-Diabetes und GLP-1-Agonisten-Therapie in der klinischen Praxis beruhigen.

Unreflektierte Äußerung einer Bundesbehörde

Wir haben die Pflicht, Patientinnen und Patienten sorgfältig zu beraten und auf Risiken hinzuweisen, aber auch unbegründete Sorgen zu entkräften. Wenn Prominente wie Elon Musk mit unreflektierten Äußerungen zum Hype um die „Abnehmspritze“ beitragen, darf eine Behörde das nicht mit gleicher Münze zurückzahlen und ihm medienwirksam eine Krebsgefahr bescheinigen. Der BfArM-Präsident – der zudem Facharzt für Nervenheilkunde und Psychiatrie ist – sollte sich über die Wirkung solcher Aussagen auf kranke Menschen bewusst sein.

Und ob das angekündigte Exportverbot für GLP-1-Agonisten umgesetzt werden kann, ist zweifelhaft. Da Semaglutid in Deutschland nicht produziert wird, sind auch wir auf Importe angewiesen. Beim Apothekengroßhandel wird man schwer Vorschriften gegen Handel in der Europäischen Union durchsetzen können.

Ein Medikament spritzen – das ganze Leben lang?

Es steht völlig außer Zweifel, dass der Nutzung von GLP-1-Agonisten als Lifestyle-Droge ein Riegel vorgeschoben werden muss. Das wesentliche Argument dafür ist: Die Gewichtsabnahme bleibt nur so lange erhalten, wie man das Medikament spritzt. Sollen sich etwa junge Erwachsene damit wirklich lebenslang behandeln?

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Die durch das Interview ausgelöste Berichterstattung hat neben der Verunsicherung von Menschen mit Typ-2-Diabetes leider weitere mediale Aufmerksamkeit für die „Abnehmspritze“ erzeugt, sodass bald jeder Bundesbürger darauf aufmerksam wird. In Folge wird sich die Versorgung von Menschen mit Typ-2-Diabetes weiter verschlechtern – falls dies überhaupt noch möglich ist.

Professor Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf.

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